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Propaganda und Desinformation

Ein alter Essay von Léon Poliakov über die ideologische Schlacht zwischen Palästinensern und Juden ist erstmals auf Deutsch erschienen

  • Klaus Bittermann
  • Lesedauer: 7 Min.
Wie alles anfing: Zusammen mit dem neuen israelischen Militär verabschiedet David Ben Gurion (mit Jackett) die letzten britischen Soldaten in Haifa am 3. Juli 1948.
Wie alles anfing: Zusammen mit dem neuen israelischen Militär verabschiedet David Ben Gurion (mit Jackett) die letzten britischen Soldaten in Haifa am 3. Juli 1948.

Nachdem der Historiker Omer Bartov, der Autor von »Anatomie eines Genozids«, in der »FAZ« die »Vertreibung Hunderttausender Palästinenser« und die »Entrechtung der Araber« in Israel beklagt hat, was schon lange vor der Wahl der aktuellen Netanjahu-Regierung die Politik Israels gewesen sei, kann man einem Buch aus dem Jahre 1983, das erst jetzt auf Deutsch erschienen ist, nur eine möglichst große Aufmerksamkeit wünschen: »Von Moskau nach Beirut. Essay über die Desinformation«. Geschrieben hat es Léon Poliakov, der 1910 in St. Petersburg geboren wurde und 1997 in Orsay gestorben ist. Es wurde übersetzt von Miriam Mettler und Alex Carstiuc, der es als Poliakov-Spezialist auch mit einem kenntnisreichen Vorwort versehen hat.

In der »FAZ« kommt Omer Bartov über Allgemeinplätze, wie Netanjahu gehe es um Machterhalt und Besatzung korrumpiere, nicht wirklich hinaus. Er beweist in seinem Artikel vor allem, dass man Desinformation, der Poliakovs Hauptaugenmerk gilt, nicht nur betreiben kann, indem man geschichtliche Fakten verfälscht, sondern auch, indem man sie einfach verschweigt. Wenn Opfer und Täter bereits im Vornherein feststehen, wird die Vielschichtigkeit des Konflikts einfach ausgeblendet.

In einem historischen Exkurs erläutert Poliakov die Notwendigkeit einer Staatsgründung Israels, um den Juden eine sichere Heimstatt zu geben. Diese Bemühungen führten im November 1947 schließlich zum Beschluss der Vereinten Nationen, Palästina in zwei Staaten aufzuteilen. Die palästinensischen Juden waren damit einverstanden, die Araber lehnten ab – ein Muster, das sich als roter Faden durch die Friedensverhandlungen zog.

Am 15. Mai 1948, einen Tag nach dem Abzug der britischen Truppen aus dem Mandatsgebiet, versuchte eine riesige arabische Übermacht ihren Vorsatz, die Juden ins Meer zu treiben, in die Tat umzusetzen, was zur Verwunderung der gesamten Weltöffentlichkeit misslang. Da ein Krieg, in dem niemand vertrieben wird, keine Häuser zerstört und keine Menschenrechte verletzt werden, bislang noch nicht erfunden wurde, mutet es merkwürdig an, wenn man dies als besonders verwerflich anprangert, obwohl Israel sich nur verteidigt hat. So gut wie alle unabhängigen Staaten, schreibt Arthur Koestler in einer Reportage aus Israel 1948, »sind durch einen gewaltsamen und zum jeweiligen Zeitpunkt rechtswidrigen Umsturz entstanden«. Israel hingegen wurde »im Laboratorium der Diplomatie ausgebrütet«, und dennoch verdankt Israel seine Existenz den vollendeten Tatsachen, die es mit seinem Sieg geschaffen hat.

Henryk M. Broder hat einmal die lapidare Bemerkung gemacht, dass es die Juden ziemlich lange mit der Diaspora versucht hätten, aber schließlich einsehen mussten, dass das keine gute Idee gewesen sei. Die Notwendigkeit der israelischen Staatsgründung war in erster Linie den Deutschen zu verdanken, aber auch allen anderen Staaten, die glaubten, die Juden seien ihr Unglück.

Der Nationalstaat ist zunächst einmal die Institutionalisierung von Bedingungen, unter denen sich all die bereits bekannten Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse reproduzieren. Israel wurde also zu einem Staat wie jeder andere auch. Im Unterschied allerdings zu den arabischen Staaten, die Israel umgeben, ist dieses demokratisch verfasst. Vielleicht hat man deshalb höhere moralische Ansprüche an Israel, das man bei Menschenrechtsverletzungen anklagt, die man in den arabischen Staaten offensichtlich für erklärlich und entschuldbar hält.

In den arabisch-israelischen Kriegen 1948 (es gab mehrere Offensiven von arabischen Staaten) fand »ein faktischer Bevölkerungsaustausch« statt. Zwei Drittel der 900 000 in Palästina lebenden Araber flüchteten vor allem aufgrund der Propaganda ihrer Führer. Von den Israelis hatten sie in der Regel wenig zu befürchten und erhielten auch die Staatsbürgerschaft. Von Beginn an ist die Vertreibung der Araber aus ihren angestammten Gebieten das vorherrschende Narrativ, das die Journalistin Martha Gellhorn schon 1961 in einem detaillierten Bericht über die palästinensischen Flüchtlingslager als Propaganda entschlüsselt hat.

Bei Poliakov kann man nachlesen, wie sich die antiisraelische russische Propaganda auch in der französischen Linken auszuwirken begann, als zur Zeit des Eichmann-Prozesses 1961 der Zionismus mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wurde, weil die Israelis in Wirklichkeit die Nazis in Bonn hätten schützen wollen, die heimlich einen 3. Weltkrieg vorbereiten würden, weshalb der Militär und Minister Moshe Dayan in damaligen Karikaturen als Joseph Goebbels auftauchte.

Poliakov verdankt seine Kenntnisse einem umfangreichen Studium vor allem der russischen und französischen, aber auch der arabischen Presse, die er als nach Paris geflüchteter russischer Jude ausgiebig zitiert und auf diese Weise ein präzises Bild der sich im Laufe der Zeit wandelnden antisemitischen Rhetorik und Stimmung in den verschiedenen Ländern entstehen lässt.

Als die israelische Armee Anfang Juni 1982 in den Südlibanon einmarschierte, weil von dort aus regelmäßig terroristische Anschläge gegen Israel erfolgten, wurde dieser Krieg auch von der israelischen Friedensbewegung als Angriffskrieg gewertet. Der Grund für den Libanon-Krieg wurde kaum thematisiert – die Propaganda sorgte dafür, dass auch die akademischen und literarischen Kreise Israel verurteilten, wie zum Beispiel Günther Anders, der in der »Zeit« schrieb: »Was Begin getan hat, und es bricht einem das Herz, das israelische Volk (das ihm so blind gehorcht wie das deutsche Volk, als es sechs Millionen von uns ausrottete) … hat mich, der ich Selbsthass hasse, dazu gebracht, mich zu schämen.« Weder die Invasion in der Tschechoslowakei, schreibt Poliakov, »noch der Vietnamkrieg oder die unzähligen Massaker unter Arabern, deren Schauplatz der Nahe Osten seit Jahren ist, führten in Frankreich zu einem derartigen Aufschrei«.

Als unmittelbare Folge der allgemeinen Empörung wurde am 9. August 1982 auf ein Restaurant in der Pariser Rue des Rosiers im jüdischen Viertel ein antisemitisches Attentat durchgeführt, dem sechs Menschen zum Opfer fielen. Am 16. September fanden die Massaker von Sabra und Schatila statt und heizten die antisemitische Stimmung weiter an, obwohl diese Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern in Beirut von phalangistischen Milizen begangen wurden, als Racheakt für die Ermordung des libanesischen Präsidenten Baschir Gemayel. Und auch wenn das israelische Militär tatenlos zusah, wurde es allein für das Massaker verantwortlich gemacht.

In Paris spitzte sich die Situation so zu, dass Poliakov befürchtete, es könnte zu einem Pogrom kommen, vor allem weil die Medien das Gerücht in die Welt setzten, General Ariel Sharon hätte seine libanesischen Verbündeten beauftragt, das Lager von Terroristen zu säubern, eine Aktion, die dann leider aus dem Ruder gelaufen sei. Die Vorwürfe waren so massiv, dass Begin gezwungen war, eine Untersuchungskommission einzusetzen, deren Bericht mit den politischen und militärischen Verantwortlichen hart ins Gericht ging.

Genau daran lässt sich der große Unterschied ablesen zwischen den arabischen Staaten, in denen eine solche unabhängige Untersuchung niemals stattgefunden hätte, und einer Demokratie. Beeindruckt von diesem Vorgang schrieb damals der »Nouvelle Observateur«, dass »ein Volk, das den Mut hat, sich selbst zu verurteilen, würdig ist, einen Staat zu haben, zu behalten und zu verteidigen«. Aber das dürfte nur wenig zur Kenntnis genommen worden sein, denn in der »Le Monde Diplomatique« wiederum war man von den »Unzulänglichkeiten« der Untersuchung überzeugt.

Auch in Deutschland wuchsen nun die antisemitischen Tendenzen in der friedensbewegten Linken, wo man sich vorher aus historischen Gründen etwas zurückgehalten hatte, sieht man von der extremen Linken einmal ab, von der sich einige schon Ende der 60er Jahre in Jordanien für den bewaffneten antiimperialistischen Kampf ausbilden ließen. Hier entdeckte man nun, dass eine Solidarisierung mit den Palästinensern nicht nur den Vorteil bot, auf der richtigen Seite zu stehen, nämlich auf der Seite der Opfer, sondern die Möglichkeit, Israel als Täter zu identifizieren. Damit beginnt, was der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex so ausgedrückt hat: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.« Aber das ist eine andere Geschichte.

Léon Poliakov ist eine grandiose Studie der Genese des linken und linksliberalen Antisemitismus vor dem Hintergrund des Palästina-Konflikts gelungen, die mit Verve und Empörung geschrieben ist; keine akademische Arbeit, sondern eine journalistische und lebendige Darstellung der ideologischen Schlacht zwischen Israel und den Arabern, die für die Juden schon lange verloren ist, weil in der westlichen Welt fast nur noch der Erzählung der Opfer geglaubt wird. Die Hamas und die Regierung Netanjahu arbeiten dabei Hand in Hand an der Delegitimierung des demokratischen Israel. Dass Zehntausende dagegen protestieren unter Bedingungen, unter denen in Deutschland wahrscheinlich schon der Notstand ausgerufen worden wäre, wird hingegen kaum wahrgenommen.

Léon Poliakov: Von Moskau nach Beirut. Essay über die Desinformation. Hg. und a. d. Franz. übersetzt v. Alex Carstiuc u. Miriam Mettler, Ça ira, 224 S., br., 25 €.

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