Corona-Pandemie: Drei Jahre in Selbstisolation

Seit drei Jahren ist der Autor in Selbstisolation, weil die Gesellschaft keinen Schutz vor dem Coronavirus bietet

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 8 Min.

Vor zwei Jahren, im Sommer, saß ich auf dem Balkon. Ich aß eine Melone, sie war reif und süß und saftig. Eine Wespe kam und umkreiste mich, leckte vom zu Boden getropften Saft, stieg wieder auf, kreiste weiter. Ich schnitt ein Stück Melone ab, platzierte es ganz am Rand des Balkons und beobachtete, wie immer mehr Wespen anfingen, am Fruchtfleisch herumzusäbeln. 27 waren es am Ende, dann wurde es Nacht. Ich legte ihnen eine Hälfte hin, vier Tage brauchten sie, bis sie sie ausgeschlachtet hatten.

Ich blättere durch meine Terminkalender von vor der Pandemie. Lauter Verabredungen, Partys, Museumsbesuche, Lesungen, Essenseinladungen, zwischendrin Dienste, Früh- und Spät-. Danach: nichts mehr. Drei Jahre Isolation.

Zu Beginn der Pandemie habe ich in der Pflege gearbeitet. Auf Facebook schrieb ich Ende Februar, alle sollten auf sich aufpassen; und dass ich es ohnehin bekommen würde, weil sich das in der Pflege eben nicht werde vermeiden lassen. Daraufhin rief mich eine Freundin an, die in der medizinischen Forschung arbeitet, und sagte mir: »Das willst du nicht haben. Glaub mir. Vor allem nicht bei deiner medizinischen Vorgeschichte.«

Meine medizinische Vorgeschichte hat mich nie sonderlich beeinträchtigt. Ich bin immunschwach. Ich hatte in der Vergangenheit bereits neurologische Ausfallerscheinungen. Aber die meiste Zeit meines Lebens war es mehr eine schattenhafte Bedrohung irgendwo in ferner Zukunft. Mit Corona wurde diese Bedrohung konkret. Ich habe fast zehn Jahre in der Pflege gearbeitet, und eines habe ich gelernt: Hilfebedürftigkeit wird in dieser Gesellschaft nur verziehen, wenn man Geld hat, und selbst dann bleibt sie Makel und Bürde. Das ist die direkte Konsequenz des Neoliberalismus: Die Kehrseite einer Ideologie persönlicher Freiheit ist die Unterstellung individueller Schuld am eigenen Schicksal.

Die Einrichtung, in der ich arbeitete, brauchte Wochen, um Maßnahmen zu ergreifen. Die Verordnungen des Berliner Senats waren klar priorisiert: erst die Intensivstationen, dann die Krankenhäuser, anschließend die Altenhilfe. Ganz zum Schluss kam die Behindertenhilfe. Wochenlang blieben die Werkstätten offen, die Einrichtungsleitung zeigte keinerlei Eigeninitiative. Wenn ich dabliebe, wer würde es mir danken? Die Leute klatschten auf den Balkonen. Ich kündigte.

Ich fing an, mit Kolleg*innen zu telefonieren; ich wollte wissen, wie es lief, was sie dachten. Die Gespräche dauerten Stunden. Irgendwann fing ich an, sie aufzuzeichnen und machte daraus ein Buch: die Pflegeprotokolle. Fast jeder Bereich der Pflege und der Sozialen Arbeit kam zu Wort, zurecht kamen die wenigsten. Inzwischen hat ungefähr ein Drittel der damaligen Gesprächspartner*innen gekündigt.

Ich selbst saß auf meinem Balkon und las, wie sich meine Bubble ihrer selbst versicherte. Ich bin Pfleger, aber auch Journalist und Autor. Den ersten Lockdown überstanden die meisten Freund*innen recht gut: Sie waren überzeugt, das Richtige zu tun, nicht für sich, aber aus Solidarität. Sie selbst sahen sich nicht bedroht, das unterschied uns. Aus der Politik kamen Appelle zusammenzuhalten und sich nicht spalten zu lassen; gleichzeitig etablierte die Medizin die Unterscheidung zwischen Risikogruppen und dem Rest der Bevölkerung, der gar keine eigene Bezeichnung bekam, so sehr ist er Norm. Man könnte sie die Normalsterblichen nennen.

Die WHO hatte aus der Erfahrung insbesondere mit Ebola-Epidemien in Westafrika ab Mitte März 2020 darauf gepocht, die Schutzmaßnahmen so umfassend wie möglich zu gestalten. Man könne in einer neuen Situation erst hinterher evaluieren, was geholfen hätte. Diese Erkenntnisse wurden von einer ganzen Reihe von Ärzt*innen geflissentlich ignoriert, die sich mehr um das Wohlergehen der Normalsterblichen sorgten. Für die diversen Fehleinschätzungen und Irreführungen gab es kaum Konsequenzen. Paradebeispiel dafür ist der Virologe Hendrik Streeck, der regelmäßig falsche Einschätzungen abgab und trotzdem quasi ins Fernsehen einzog. Das hieß: Es gibt keine nennenswerte Verantwortungsübernahme in diesem Bereich. Das wiederum bedeutet: Der Medizin ist nicht zu trauen.

Ziel der Maßnahmen war spätestens mit Ende des ersten Lockdowns Anfang Mai 2020 nicht, Menschen wie mich zu schützen, sondern das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Außerdem sollte die Wirtschaft weiterlaufen und jener Teil der Bevölkerung, der den Staat als Garant seiner Freiheit kennengelernt hat, wollte auch wieder tun und lassen dürfen, was er wollte. Manche hofften auf die Impfung, um die gesellschaftlichen Spannungen, die die Querdenken-Verbrecher auf die Straße brachten, wieder aufzulösen. Den Großteil der Menschen, scheint mir, trieb es zurück zu ihrer Normalität. Eine Normalität, in der ich keine Rolle mehr spielte.

Einen kurzen Moment, ein paar Wochen im Frühjahr 2020, waren die sozialen Medien ein schöner Ort; als alle sich zusammenrissen und davon erzählten, wie schwer es ihnen fiel. Schon da mischten sich auch in meine Timeline die Stimmen, die sich kritisch glaubten. Einer – ein Berliner Dichter – schrieb schon im Mai 2020, diese kollektive Angstneurose sei gefährlich für die Psyche. Ich fragte ihn, ob er sich nicht lieber persönlich bei den Leuten melden wolle, um die er sich Sorgen mache. Nein, sagte er, das sei ihm zu viel Arbeit, er wollte das nur als allgemeine Mahnung verstanden wissen. In Rezensionen wird er feinfühlig genannt.

Nach dem ersten Lockdown allerdings wurden Facebook und Twitter unerträglich. Ständig Urlaubsfotos, Bilder von Bar-Abenden, Konzertbesuche. Ich begann, mehr zu telefonieren eine kurze Weile, aber es half nicht. Ich erlebte nichts, also hatte ich auch nichts zu erzählen. Ich kaufte mir einen Calvados für 60 Euro. Er schmeckte nicht.

Ich schrieb ein zweites Buch über meine Jahre als Pfleger. Ich zog bei einer an Demenz erkrankten Frau ein, um die 80, und kümmerte mich um sie. Wenn wir einkaufen gingen oder zum Arzt, fragte sie, warum sie Maske trüge und so viele andere nicht. Zum Glück ist sie ihr Lebtag Kommunistin gewesen, also sagte ich ihr: »Weil die Deutschen alle Nazis sind.« Das überzeugte sie.

Eine Zeit lang ging das so. Die Welt und ich, wir lebten uns auseinander. Immer mehr Leute begannen sich über die Schutzmaßnahmen aufzuregen. Einer meiner liebsten Schauspieler, Richy Müller, der jeder Rolle eine große Zartheit und Nahbarkeit geben kann, atmete aus Witz in Tüten, um sich über die Schutzmaßnahmen lustig zu machen. Zwei Tage lang war ich am Boden zerstört. Ich habe schon Leute ersticken sehen. Daran ist nichts Komisches, es ist ein grauenvoller Tod. Die Menschen lobpreisen Leute, die in der Pflege arbeiten, aber darüber wollen sie bitte nichts hören. Um mich abzulenken, begann ich Schach zu spielen.

Insgesamt sah ich über die letzten drei Jahre fünf Personen regelmäßig, darunter ein Schulkind, das auch isoliert war. Ihm brachte ich das Lesen bei. Seit fast einem Jahr zwingen sie das Kind wieder in die Schule. Kinder hätten immer einen milden Verlauf und keine Langzeitfolgen, heißt es, was natürlich gelogen ist. Sie können es nicht wissen. Es gründeten sich Elternvereinigungen, die behaupteten, den Schutz der Kinder im Sinn zu haben und deswegen um jeden Preis die Schulen wieder öffnen wollten. Die Protagonist*innen waren sehr oft Leute aus der Mittelschicht, die ihr Leben wieder zurückhaben wollten: ihrer Arbeit nachgehen, ihren Hobbys, abends ins Restaurant. Sie verteidigten ihr Lebensmodell, das auf externe Betreuung baut, und ließen den Rest zurück. Karin Prien, damals Präsidentin der Kultusministerkonferenz, sagte, tote Kinder seien schon tragisch, aber man müsse differenzieren: an oder mit Corona gestorben? Schulen scheinen als Drehkreuz des Virus eingeplant zu sein. Sobald man Kontakt zu Schulkindern hat, muss man davon ausgehen, infiziert zu werden.

Nach und nach wurden alle weich unter diesem Bullshit-Gewitter, die Leute wurden unvorsichtiger und unvorsichtiger. Im Juni 2022 bekundete Christian Drosten im »Spiegel«-Interview: »Wenn ich in einer größeren Gruppe stehe, in der keiner eine Maske trägt, dann ziehe ich auch keine an. Ich will ja nicht Dr. Strange sein.« Der gesellschaftliche Druck ist also hoch genug, dass selbst Forschende ihre Erkenntnisse dem kollektiven Urteil unterwerfen. Das ist der Terror der Normalität.

Wenn es keinen Schutz mehr gibt, müssen sich alle infizieren. Es fällt mir schwer, für diese Art der Politik ein anderes Wort als eugenisch zu finden. Was ist mit Leuten wie mir, für die eine Infektion keine Option ist, weil beispielsweise die Impfung nicht sauber anschlägt? Tja. Pech. Das Ende der Pandemie ist kein Ende der Gefährdung. Im Gegenteil: Das Ende der Maßnahmen heißt mehr Gefahr für Leute wie mich. Die Maskenpflicht fällt, Bezirksämter stellen in den Klassenräumen die Luftfilter aus, um Strom zu sparen. Anfang April gibt es nicht mal mehr in Arztpraxen Maskenpflicht. Das zementiert die Segregation in diesem Land, das von sich selbst so gern behauptet, ein freies zu sein.

Diese Freiheit der vielen habe ich teuer bezahlt. Finanziell natürlich, aber vor allem menschlich. Freund*innen, die wegen Long Covid seit Monaten in abgedunkelten Zimmern liegen. Einer, der daran starb.

Wie es weitergeht, weiß ich noch nicht. Ich werde keinen Frieden machen mit einer Welt, die das einfach hinnimmt; mit einer Gesellschaft, deren Freiheit auf dem Leid dieser Menschen gründet. Man muss auch das Positive sehen, also tue ich das: Ich habe den Wespen damals keine Namen gegeben. Das ist schon mal gut.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal