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Im Raum der Möglichkeiten

Zurzeit soll die Kunst überall politisch sein. Doch die Eindeutigkeit ästhetischer Werke zu behaupten, war bereits vor 2000 Jahren falsch

  • Ioannis Dimopulos
  • Lesedauer: 6 Min.
Nicht ausbuchstabiert: Was genau zwischen seiner Protagonistin und ihrem Liebhaber in der Kutsche passiert, überlässt Gustave Flaubert in »Madame Bovary« der Imagination der Leserschaft.
Nicht ausbuchstabiert: Was genau zwischen seiner Protagonistin und ihrem Liebhaber in der Kutsche passiert, überlässt Gustave Flaubert in »Madame Bovary« der Imagination der Leserschaft.

Was haben Ovid, Gustave Flaubert, Michel Houellebecq, Juli Zeh und der deutschsprachige Hip-Hop gemeinsam? Wir wären verrückt, würden wir als Antwort darauf die literarische Qualität ihrer Kunst annehmen. Es ist aber ebenso zu simpel und damit falsch, sie alle zu politischen Figuren zu erklären. Letzteres ist gegenwärtig oft in den sozialen Medien zu beobachten: Alle Kunst sei politisch, heißt es dort vielfach, was auch immer das bedeuten soll. Dabei geht es selten darum, zum Beispiel einen Roman konkret nach seinem politischen Gehalt auszuloten. Vielmehr wird dem allgemeinen Bedürfnis Ausdruck verliehen, in postpolitischen Zeiten etwas zu finden, das politischen Einfluss ermöglicht. Darüber wird oft vergessen, dass Kunst nicht so einfach funktioniert, wie man es gerne hätte.

Als Kim de l’Horizon sich bei der Dankesrede für den Deutschen Buchpreis in Solidarität mit den Frauen im Iran die Haare rasierte, war bereits klar, dass diese Aktion für Freude im deutschen Feuilleton sorgen würde. Ohne dass die meisten de l’Horizons Roman »Blutbuch« aufmerksam gelesen hätten, hat das für sie alles schon irgendwie gepasst. Eine emanzipierte Person außerhalb des Irans, die meint, mit weniger Haar gehe ein Mehr an revolutionärer Praxis einher, könne doch gar keinen (politisch) schlechten Roman schreiben, oder? Doch ob ein Roman politisch progressiv ist oder nicht, das hängt nicht hauptsächlich an der Person, die ihn schreibt – sondern vor allem an seiner konkreten Form. Wohl, weil die Homophobie im Roman nicht mit dem Bild einer toleranten, queeren Person zusammenpasst, das de l’Horizon öffentlich vermittelt, wird sie nicht bemerkt oder unter den Tisch gekehrt. Dass l’Horizon Homosexuelle im Roman als »protofaschistoid« bezeichnet, ohne diesen Satz reflexiv einzuholen, sollte zumindest die Frage aufwerfen, ob sich das Bild vom emanzipatorischen Kunstwerk allein durch die eingenommene Sprechposition durchhalten lässt.

Genau andersrum verhält es sich oft, wenn über Kriminalität und Drogen geschrieben und gerappt wird. Die gegenwärtige Ausprägung des deutschen Hip-Hops sieht sich seit Jahren dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie Kinder negativ beeinflussen würde. Hört jemand Hip-Hop, scheinen Drogenkonsum und der Eintritt in einen arabischen Clan nicht mehr weit entfernt. Diese Befürchtungen erinnern an die verstaubte »Ballerspiele«-Debatte, in der Computerspiele für Amokläufe verantwortlich gemacht wurden. In all diesen Fällen wird die Wirkung, die ein Kunstwerk auf das Publikum hat, als einseitig kommunikativ-intentional verstanden. Das Kunstwerk habe eine definite und vorgegebene Aussage, die ungefiltert und unmittelbar aufgenommen werde und zu kalkulierbaren Konsequenzen führe.

Weil das so nicht stimmt, hat die Politisierung von Kunst ein Problem. Sie missversteht das Verhältnis zwischen Künstler und Kunstwerk. Es ist gar nicht so einfach (und vielleicht auch irrelevant), die Intentionen eines Künstlers aus einem Werk herauszuarbeiten. Wir haben es bei einem Roman nicht mit einem Bericht zu tun, der versucht, ein Geschehen so genau wie möglich zu reproduzieren. Vielmehr wird im Kunstwerk ein Raum der Möglichkeiten eröffnet, der es erlaubt, einen Blick auf Phänomene der Wirklichkeit zu werfen, ohne Faktizität zu besitzen. Die Virtuosität des Künstlers besteht ja nicht darin, dass er etwas sagt, was wir bereits in den Nachrichten gehört haben. Zentral ist im Bereich der Literatur das Spielen mit Sprache und damit auch der Blick auf die Dinge, der sich nicht mit abstrakten Begriffen zufriedengibt.

Kunst ist kein Handwerk, in dem eine genaue Anleitung befolgt wird. Gelungene Kunst passiert gerade im Bereich des Regellosen, der Subversion von Bekanntem und dem sich Überlassen an einen Gegenstand. Kunst wird in ihrer Spezifik verkannt, wenn geglaubt wird, dass sie politische Rede mit anderen Mitteln sei. Man gerät deshalb argumentativ in Probleme, wenn für ein Kunstwerk nur auf eine ganz bestimmte Lesart reduziert.

Dem Künstler die vermeintlich politischen Aussagen seines Kunstwerks vorzuwerfen, ist kein neues Phänomen. Echauffiert man sich heute zum Beispiel über das bald erscheinende Computerspiel »Hogwarts Legacy«, das nicht deutlich genug Abstand von den »transphoben« Äußerungen der Franchise-Begründerin Joanne K. Rowling genommen habe, war vor 2000 Jahren der römische Dichter Ovid Zielscheibe der Empörung. Als Kaiser Augustus regressive Ehegesetze beschloss, um die sexuelle Freiheit der Bürger des Römischen Reichs einzugrenzen, würdigte Ovid in seinem Gedicht »Ars Amatoria« die erotische und sexuelle Lust – was ihm die Verbannung ans Schwarze Meer einbrachte. Dass Ovid zu Beginn verspricht, nur über »sichere Lieb’ und erlaubtes Buhlen« zu singen, half ihm wenig. Bereits die Möglichkeit der schlechten Einflussnahme auf das Publikum reichte, um entsprechend zu handeln.

Ein weiteres Beispiel ist der Gerichtsprozess gegen den französischen Romancier Gustave Flaubert. Dieser musste sich im Frühjahr 1857 aufgrund der Verletzung von öffentlicher Moral und guter Sitte für seinen Roman »Madame Bovary« rechtfertigen. Der Grund: Der Roman animiere zum Ehebruch und stelle in obszöner Weise fleischliche Lust literarisch aus. Dabei ging es um die berühmte Fiaker-Szene, in der sich die Protagonistin Emma Bovary mit ihrem Liebhaber während einer Kutschfahrt vergnügt. Interessant ist, dass Flaubert in dieser Szene nur die Fahrt der Kutsche und eine nackte Hand beschreibt, die einen kurzen Augenblick lang durch die Vorhänge der Kutsche aufblitzt. Dass die beiden miteinander schlafen, geht nicht aus der Textoberfläche hervor, sondern erfordert das Wagnis seitens der Leser, in Gedanken hinter die zugezogenen Fenster zu blicken. Flaubert evoziert hier nicht nur die Lust der beiden Figuren, sondern auch die Lust am Text und seiner Deutung, die nicht auf eine klare Interpretation hinauslaufen kann. Man missversteht den Text, wenn man ihm Eindeutigkeit unterschiebt oder, schlimmer noch: für bare Münze nimmt. Hier spricht Kunst auch über ihre eigene Deutung, insofern, als dass der vermeintlich sittenwidrige Gehalt nicht so sehr im Werk selbst verborgen ist, sondern viel eher den Erwartungen und Bedürfnissen der Rezipienten entspringt. Das zu erkennen, bedarf jedoch einer gewissen Medienkompetenz, deren Vermittlung man von Bildungsinstitutionen verlangen sollte.

Auch Kunstkritik sollte nicht als Auswuchs politischer Praxis begriffen werden, sondern die ästhetische Verhandlung der Welt ernst nehmen. Eine falsche Richtung schlägt etwa ein, wer als Kunstkritiker Juli Zeh politische Mittelmäßigkeit vorwirft. Stattdessen wäre auf die Gemachtheit des Kunstwerks, in diesem Fall ihres Romans, zu blicken. Subversiver als kopfloser politischer Protest ist vielleicht gerade die ästhetische Form, die nicht Halt davor macht, die eigene Sprechposition selbstreflexiv aufzuheben. Der Literaturwissenschaftler Werner Hamacher spricht in diesem Zusammenhang von einer »Ethik der Lektüre«. Sie bezeichnet einen Umgang mit Denken und Text, namentlich der Kunst, die die Existenz von vermeintlich festen Grenzen und Dichotomien wie Gut und Böse kritisch hinterfragt und dadurch die angeblichen semantischen Sicherheiten und Eindeutigkeiten als ideologisch entlarvt. Möchte man tatsächlich verstehen, inwiefern Kunst politisch und Politik Kunst sei, müsste man nach Schwellenwerten dieser Phänomene Ausschau halten, statt anhand der deformierten Wirklichkeit sich so dumm machen zu lassen, dass alles, was nicht eindeutig genug gegen sie opponiert, reaktionär erscheint.

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