Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen gefordert

Der Freiheitsfonds kauft zum Freedom Day insgesamt 70 Gefangene frei und fordert die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 5 Min.

Hasan ist frei. Am Mittwoch darf er nach knapp drei Wochen Haft die Justizvollzugsanstalt Plötzensee verlassen. Denn der Freiheitsfonds hat ihn zusammen mit 70 weiteren Menschen in ganz Deutschland freigekauft. Sie alle büßten Ersatzfreiheitsstrafen ab: Sie saßen im Gefängnis, weil sie eine Geldstrafe nicht begleichen konnten.

Um auf diese ungerechte Praxis im deutschen Strafrechtssystem aufmerksam zu machen und zumindest ein paar Verurteilten die Haft zu verkürzen, hat der Freiheitsfonds den Freedom Day ausgerufen und mit 60 000 Euro Spenden ausstehende Geldstrafen beglichen. Zugleich findet vor dem Bundestag eine Kundgebung statt, wo das Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe die Abgeordneten dazu aufruft, einen Reformvorschlag aus dem Justizministerium nicht durchzuwinken, sondern für ein Ende dieses Systems einzutreten.

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Bei Bagatelldelikten wie »Erschleichung von Leistungen«, also Fahren ohne Fahrschein, kleinem Diebstahl oder Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz werden meist Geldstrafen verhängt. Die Härte der Strafe bemisst sich in der Anzahl an Tagessätzen, die Höhe der Tagessätze bestimmt das Gericht je nach persönlichen und finanziellen Verhältnissen der Verurteilten. Doch was, wenn letztere überhaupt kein Geld haben und zudem in schwierigen Lebenssituationen stecken, die ihnen den rechtzeitigen Widerspruch gegen den Strafbefehl, eine Ratenzahlung oder eine Umwandlung in freie Arbeit unmöglich machen? Dann greift die Ersatzfreiheitsstrafe und sie landen für die Anzahl der Tagessätze hinter Gittern.

Auf diese Weise entzieht Deutschland rund 56 000 Menschen jährlich die Freiheit. Viele von ihnen sitzen in Berlin, im vergangenen Herbst waren die 415 Plätze fast komplett belegt. Von den 70 nun freigekauften Personen saßen 30, also fast die Hälfte, in der Hauptstadt ein. »Berlin ist eine große und eine arme Stadt«, sagt Arne Semsrott, Mitinitiator des Freiheitsfonds, zu »nd«. Zu den sozialen Ursachen komme die strenge Ahndung: »Die BVG ist sehr aggressiv mit ihren Anzeigen, sie zeigt besonders viele Menschen ohne Ticket an.«

Wenn dann auf die Anzeige ein Strafbefehl und das Urteil folgt, bedeutet der Haftantritt einen krassen Schock. »Die ersten Tage in Haft sind auch die mit dem größten Suizidrisiko«, erzählt Semsrott. Die Betroffenen werden aus ihrem sozialen Umfeld gerissen, verlieren ihre Wohnung oder Unterbringung, lassen im schlimmsten Fall Kinder zurück, die dann in Obhut kommen. Auch für Hasan habe die Ersatzfreiheitsstrafe Perspektiven zerstört. Er musste seine Entgiftung in einer Entzugsklinik vorzeitig abbrechen. »Statt eine Therapie zu machen, sitzt Hasan nun im Gefängnis«, empört sich das Bündnis. Auch wenn er ab Mittwoch wieder frei ist – mit der Suche nach einem Therapieplatz müsse er von vorne anfangen.

»Das System der Ersatzfreiheitsstrafe hilft gar niemandem«, sagt Manuel Matzke von der Gefangenen-Gewerkschaft GG/BO. Während der Haft sollte das Gefängnis zwar relevante Unterstützungsmaßnahmen zum Beispiel in Form von Therapie ermöglichen. Doch in der Praxis sind die Justizvollzugsanstalten Matzkes Erfahrung nach überlastet. »Und dann kommt irgendwann der Justizapparat und fragt, könnt ihr diesen oder jenen Menschen auslösen, der gehört hier nicht hin.«

Sie gehören dort alle nicht hin, findet Mitali Nagrecha von der Initiative Justice Collective. Als Teil des Bündnisses fordert ihre Gruppe die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen, wie sie Deutschland aktuell umsetzt. Der Reformvorschlag aus dem FDP-geführten Bundesjustizministerium sieht aber lediglich eine Reduzierung der Hafttage vor. »Das ändert nichts an der Ungerechtigkeit, dass die Betroffenen überhaupt ins Gefängnis müssen«, so Nagrecha. Auch die Punkte im Reformvorschlag, die eine Umwandlung der Geldstrafe in Ratenzahlung oder freie Arbeit erleichtern sollen, reichen in ihren Augen nicht aus. »Das wurde alles so oder ähnlich schon probiert. Aber die Anzahl an Ersatzfreiheitsstrafen steigt weiter.«

Es sei deshalb wichtig, den Druck auf die Politik jetzt aufzubauen, bevor sich das Reform-Fenster wieder schließe. Tatsächlich interessierten sich mehr und mehr Politiker*innen für das Thema. »Aber die Parteien wollen immer noch nach außen hin zeigen, dass sie Kriminalität bekämpfen und den Rechtsstaat nicht infrage stellen.«

Doch was als Kriminalitätsbekämpfung gelte, bedeute vielmehr die Bekämpfung von armen, rassifizierten und migrierten Menschen. Nagrecha beruft sich auf eine Bundesstatistik, nach der rund ein Drittel aller Geldstrafen gegen Nicht-Deutsche gehen. Hier sieht Nagrecha die Verbindung zu strukturellem Rassismus in den Sicherheitsbehörden: »Die Polizei kontrolliert gezielt marginalisierte und von Rassismus betroffene Menschen.« Am internationalen Tag gegen Polizeigewalt will das Justice Collective deshalb darauf aufmerksam machen, dass bereits Praxen wie die sogenannten verdachtsunabhängigen Personenkontrollen diskriminieren – und alles, was darauf folgt, diese Diskriminierung fortsetzt.

In Berlin gab es Ende Februar zumindest einen Vorstoß: Die Generalstaatsanwältin Margarete Koppers empfahl den Staatsanwaltschaften, für armutsbetroffene Menschen einen niedrigen Tagessatz von fünf Euro zu wählen. Denn aktuell legen die Berliner Strafgerichte die Tagessatzhöhe bei Menschen, die Sozialleistungen beziehen, pauschal auf 15 Euro fest, wie die Pressestelle der Strafgerichte bestätigte. Seit der Empfehlung scheint sich jedoch noch nichts geändert zu haben. Jedenfalls haben Nagrecha und ihre Mistreiter*innen bei ihren Gerichtsbegleitungen noch kein einziges 5-Euro-Urteil erlebt. Aus der Pressestelle der Staatsanwaltschaften hieß es, dass Änderungen in der Justiz nur langsam umgesetzt würden. »Daher wird man allein aus den Beobachtungen aus Februar noch keine belastbaren Schlüsse ziehen können.«

Nagrecha hat hingegen die Befürchtung, dass sich Staatsanwält*innen, die den Tagessatz vorschlagen, sowie Richter*innen, die ihn bestätigen oder kippen, schlicht nicht vorstellen können, wie arm manche Menschen sind. »Und sie sind es gewohnt, Menschen ins Gefängnis zu schicken.« Niedrigere Tagessätze wären in der Tat sinnvoll, aber dafür brauche es verbindliche Regelungen.

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