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Nazis treten Mann ins Gesicht

2022 zählte die Opferperspektive Brandenburg 138 Fälle rechter Gewalt

Ende Oktober lauern Neonazis vor dem Kulturzentrum Gladhouse in Cottbus drei jungen Männern auf, beschimpfen sie als »Zecken« und jagen sie durch die Straßen. Einen werfen sie zu Boden, schlagen ihn, treten ihm ins Gesicht. Er soll »Heil Hitler« sagen. Aber als er es derart gepeinigt tut, hören die Misshandlungen trotzdem nicht auf. Das Opfer erleidet schwere Gesichtsverletzungen und verliert Zähne. Nur die eintreffende Polizei verhindert, dass ihm noch Schlimmeres zustößt.

Das war im vergangenen Jahr einer von 138 rechten Gewalttaten in Brandenburg, die der Verein Opferperspektive registrierte. Die Zahl bewegt sich auf dem Niveau der Vorjahre. Für die drei Jahre zuvor wurden zwischen 130 und 150 solcher Attacken registriert. Betroffen von Attacken waren im vergangenen Jahr 242 Menschen, darunter mindestens 48 Frauen, 47 Jugendliche und 16 Kinder. Was mögliche weitere weibliche Opfer betrifft, gab es auch Meldungen über angegriffene Gruppen von Personen, bei denen der Verein nicht das Geschlecht aller einzelnen Opfer in Erfahrung bringen konnte.

In 91 Fällen hatten die Täter ein rassistisches Motiv. Das war auch so am 22. Mai bei einem Vorfall in Storbeck-Frankendorf im Landkreis Ostprignitz-Ruppin, wo ein Mann eine Mutter beleidigte und ihr erst zwei Jahre altes Kind mit einem Feuerzeug bewarf. Genauso am 18. Mai in Fürstenberg/Havel. Dort beleidigten und bespuckten 14 Rechte zwei Sudanesen und traten gegen ihre Fahrräder. Auf einen Freund, der die beiden Sudanesen beschützen wollte, schlugen sie ein.

Eine gute Nachricht gibt es aber. »Auch wenn aktuell Politiker*innen wieder häufiger versuchen, Geflüchtete zur Bedrohung und Zumutung zu erklären, registrieren wir 2022 zum ersten Mal seit 2015 keine zielgerichteten rechten Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Das ist eine erfreuliche Entwicklung«, sagt Projektleiterin Anne Brügmann am Mittwoch, als die Opferperspektive ihre neueste Jahresstatistik beim Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam vorstellte. Passend zur Ausrichtung dieser Forschungseinrichtung teilte Brügmann mit, dass für das vergangene Jahr acht antisemitische Übergriffe zu verzeichnen gewesen seien. Im Jahr zuvor war nur ein solcher Übergriff in die Statistik eingegangen.

Einen Fall von Sozialdarwinismus hat es außerdem auch gegeben. Ein Obdachloser schlief an einer Bushaltestelle. Ein Auto stoppte davor, jemand stieg aus und ging mit einer Eisenstange auf den Obdachlosen los. Genauso brutal der Angriff auf den Fahrer eines Lieferdienstes, der den Kunden eine Tüte Pommes zu wenig gebracht hatte. Dem gebürtigen Kenianer wurde ein Arm gebrochen. Von den insgesamt 138 rechten Gewalttaten sind 105 Körperverletzungen. In drei Fällen hätten die Quälereien im vergangenen Jahr mit dem Tod der Opfer enden können.

Mit dem englischen Begriff Evergreen (Immergrün) wird in erster Linie ein Musiktitel bezeichnet, der immer wieder gern gespielt und gehört wird. Die etwas veraltete Bezeichnung Evergreen verwendet am Mittwoch nun aber Opferberater Joschka Fröschner, um erneut auf ein Problem im Gerichtsbezirk Cottbus# hinzuweisen, das Fröschner bereits seit Jahren immer wieder anspricht: Die viel zu lange Zeit, die dort vergeht, bis ein Beschuldigter sich vor Gericht verantworten muss. Bei Strafverfahren in den anderen Gerichtsbezirken Potsdam, Neuruppin und Frankfurt (Oder) liege die Verfahrensdauer nach Erfahrung der Opferperspektive meist in einem relativ vertretbaren Zeitraum von unter zwei Jahren. Auch das belaste die Opfer schon. Aber im Gerichtsbezirk Cottbus müssten sie regelmäßig länger als vier Jahre, teils auch mehr als fünf Jahre warten, ohne dass ein Termin für die Hauptverhandlung anberaumt wird. Das Problem dabei: Wenn so viel Zeit vergangen ist, können sich Zeugen oft nicht mehr genau erinnern, den Täter nicht sicher identifizieren. Dann kann es passieren, dass er aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden muss und so ohne Strafe davonkommt.

Fünfeinhalb Jahre habe es gedauert, bis 2022 ein Türsteher wegen versuchten Totschlags verurteilt wurde, berichtet Fröschner. Der Mann hatte in der Silvesternacht 2016 in einer Diskothek einen afghanischen Flüchtling brutal verprügelt und vermutlich totgeschlagen, hätte man ihn nicht davon abgehalten. Eigentlich hätte man den Täter wegen versuchten Mordes belangen müssen, findet Fröschner. Ihn ärgert, dass die Geisteshaltung des Kampfsportlers beim Urteil unbeachtet blieb, die sich mit einem Blick auf sein Facebook-Profil hätte erkennen lassen. Denn der Türsteher ließ sich dort die neuen Eintragungen von Neonazi-Netzwerken und Rechtsrock-Labeln anzeigen, so Fröschner. Auch sei der Mann auf einer Fotomontage vor dem Konzentrationslager Auschwitz zu sehen gewesen.

Rassistische Delikte werden oft spontan verübt. Die Täter begegnen ihren Opfern zufällig auf der Straße. Besondere Sorge bereiten Fröschner und seinen Kollegen die 22 Fälle, in denen Rechte in Gruppen von drei und mehr Personen gezielt handeln und mit Vorsatz bestimmte Menschen angreifen. »Menschen können sich nicht mehr angstfrei in der Stadt bewegen. Das ist das Ziel dieser Angriffe«, erläutert Fröschner. »Das findet vermehrt statt.«

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