Barrikaden in Berlin

Ein Grundstein der deutschen und europäischen Demokratie war die Revolution in Preußens Hauptstadt

  • Rüdiger Hachtmann
  • Lesedauer: 8 Min.
18. März 1848: Auch die Hauptstadt Preußens wird von der Revolution erfasst.
18. März 1848: Auch die Hauptstadt Preußens wird von der Revolution erfasst.

Am 18. März 1848 wurde, mit zwei kurz nach 14 Uhr eher »zufällig« ausgelösten Schüssen aus dem Gewehr eines Infanteriesoldaten, ein bis an den Rand gefülltes Pulverfass zur Explosion gebracht: Lang aufgestaute Unzufriedenheit brach sich Bahn darüber, dass preußische Bürger ihre politischen Ansichten weder schriftlich noch mündlich unverklausuliert äußern, sich nicht zu offen politischen Zwecken versammeln oder gar in einem Verein zusammenschließen durften. Als hochexplosiver Brennstoff kam die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten hinzu.

Die Lunte, die das lange angehäufte politische und soziale »Pulver« zur Explosion brachte, war die Pariser Revolution vom 22. bis 24. Februar 1848. Der Umsturz im (seit 1789) europäischen Zentrum der Revolution, weckte in Berlin die Erwartung, auch Preußen stünde vor fundamentalen Veränderungen. Die Krone zündelte an der bereits kräftig glühenden Lunte weiter, als sie zwischen dem 13. und 16. März Kürassiere aufmarschieren ließ und diese mit ihren Säbeln auf die schließlich mehr als zehntausend protestierenden Menschen einhieben, als diese aus dem Tiergarten zurückströmten. Dort hatten zahllose Redner auf den seit Anfang März täglichen Volksversammlungen nach politischen Freiheiten verlangt und zunehmend ebenso soziale Rechte eingefordert. Auch eine Arbeiterpetition kursierte seit dem 10. März, in der das »Recht auf Arbeit« und ein »Ministerium der Arbeiter« nach dem kurz zuvor realisierten französischen Vorbild gefordert wurden.

Am Morgen des 18. März hatte der König eine Bekanntmachung anschlagen lassen. Seine Versprechungen dort konnten viele Berliner nicht zufriedenstellen: Der noch ständisch geprägte, vormoderne »Vereinigte Landtag«, der im Sommer 1847 ergebnislos auseinandergegangen war, weil Friedrich Wilhelm IV. kein »Papier«, also keine Verfassung, zwischen sich und »seinem« Volk sehen wollte, sollte »beschleunigt« einberufen werden. Der Monarch versprach daneben die Aufhebung der Zensur und eine Reform des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes in unverbindlichen Worten. Erwartungsvoll kamen schließlich mehr als zehntausend Berliner vor dem Stadtschloss zusammen. Als sie in dessen Innenhof die noch am Vortage um mehrere tausend Soldaten verstärkten Truppen sahen, wurden sie misstrauisch. Das Misstrauen wuchs, als die weiterwachsende Menschenmenge auf dem Schlossplatz auf der einen Seite von berittenen Truppen, auf der anderen Seite von Infanterieeinheiten in einer Art Leberwursttaktik eingekesselt wurde und die Kürassiere erneut mit ihren Säbeln auf die Menge einzudreschen begannen.

Als sich dann die beiden Schüsse lösten, lag es nahe zu vermuten, der »Prinz von Preußen« (der spätere König und Kaiser Wilhelm I.) – der »Kartätschenprinz«, so der Potsdamer Demokrat Max Dortu im September 1848 – wolle an den Berlinern »ein Exempel statuieren«. Die Menge floh in die Stadtviertel jenseits des Alexanderplatzes, die sich wie ein nicht geschlossener Ring um Berlin legten und in denen vor allem die verarmte Bevölkerung der mit etwa 410 000 Einwohnern nach Wien (440 000) größten Stadt des Deutschen Bundes lebte. In diesen Stadtvierteln mit damals engen Gassen wurden die meisten der fast tausend Barrikaden errichtet.

Die breiten Boulevards rund um das Stadtschloss konnte das Militär schnell erobern; hier ließ sich die Artillerie einsetzen. Zudem waren die ersten Barrikaden nur improvisiert und überdies falsch platziert. Am Alexanderplatz war für das Militär dann Schluss. Infanterieeinheiten rannten immer wieder vergeblich gegen eine dort errichtete riesige Barrikade an. Der Befehl zum Rückzug, den der König am 19. März morgens gab, war eine kluge Entscheidung: Selbst der Oberbefehlshaber General von Prittwitz musste einsehen, dass der Abzug seiner Soldaten aus der Stadt alternativlos war: Die westlichen Provinzen und Schlesien drohten von Preußen abzufallen. In den Städten des näheren und ferneren Umlandes versammelten sich bewaffnete Bürger, um nach Berlin zu ziehen. Die Berliner selbst hatten sich während der Nacht besser bewaffnet. Ein Bürgerkrieg drohte, vielleicht das Ende der Hohenzollernmonarchie.

Die Soldaten hatten in der Nacht vom 18. auf den 19. März ein Blutbad angerichtet, dem knapp 300 Berliner zum Opfer fielen. Zahllose Berichte der Zeitgenossen bezeugen eine ungezügelte Brutalität der preußischen Soldateska. Am Vormittag des 19. März wurden etwa 150 Leichen am Gendarmenmarkt vor dem Deutschen Dom aufgebahrt. Klug war auch die Geste Friedrich Wilhelms IV., als er an diesem Tag seine Mütze vor den blumengeschmückten Leichenwagen abnahm, sich verneigte – und dieses Ritual wiederholte, als drei Tage später ein nach den Schätzungen der Zeitgenossen bis 200 000 Teilnehmer zählender Trauerzug am Stadtschloss vorbei zum Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain zog.

In den ersten Wochen der Revolution glaubte die große Mehrheit der Berliner noch an einen »guten König«, der lediglich von »schlechten Beratern« umgeben sei. Diese Vertrauensseligkeit und die Illusionen in eine Reformierbarkeit der Hohenzollernmonarchie wurden im demokratischen Ausland mit Kopfschütteln registriert und verspottet. Der Schweizer Weber und Kleinbauer Johann Ulrich Furrer vertraute seinem Tagebuch an, bei den Bürgern der preußischen Hauptstadt sei es »mit dem, was man Verstand nennt, noch nicht weit her«. In der Schweiz »hätte man es anders gemacht: Einem Mann, der vor wenigen Augenblicken noch Befehl gab, das Volk niederzuhauen, würde man nicht mit Vivatrufen, sondern mit Kugeln berauschen. Aber die einfältigen Leute glauben, dass die ganze Welt zugrunde ginge, wenn keine solchen Herren von Gottes Gnaden existieren würden.«

Zur Ehrenrettung der Berliner muss man allerdings feststellen, dass die Schweizer gut reden hatten. Sie hatten mit dem Sonderbundskrieg vom November 1847 sowie dem Sieg der fortschrittlich-liberalen über die konservativ-katholischen Kantone die europäische Revolution begonnen – die einzige die erfolgreich ausging – und sollten mit der Verfassung vom Sommer 1848 der Eidgenossenschaft dann das moderne Gesicht verpassen, das sie letztlich bis heute besitzt. Ansonsten machte die Revolution fast überall vor den Thronen halt. und im zweiten Revolutionsjahr, 1849, herrschte in den drei Revolutionsmetropolen Paris, Wien und Berlin Friedhofsruhe. Auch das erklärt das Scheitern der europäischen Revolutionswelle.

Anläufe, die Revolution zu vertiefen, gab es viele, gerade auch in Berlin. Neben den zahlreichen – vor allem demokratischen – Klubs, den Vorgängern der späteren Parteien, wäre auf die sozialpolitischen Aktivitäten der entstehenden Arbeiterbewegung hinzuweisen. Eine ihrer wichtigsten Wurzeln war das Anfang April 1848 entstandene Berliner »Central-Comité der Arbeiter«, ein »quasi Arbeiterparlament von Abgeordneten aus sehr vielen Gewerken und Fabriken« – so Stephan Born gegenüber Karl Marx – sowie die Ende August in der preußischen Hauptstadt gegründete »Arbeiterverbrüderung«. Die frühe Arbeiterbewegung war vor allem sozialpolitisch aktiv. Sie verkörperte am markantesten den »Völkerfrühling«, kannte keinen an Rassismus grenzenden Kulturchauvinismus, wie er etwa in der berüchtigten »Polendebatte« vom Juli 1848 in der Paulskirche hoch schwappte. Für sie galt das Motto, das Born im Revolutionssommer folgendermaßen formuliert hatte: »Die Arbeiter trennt kein Unterschied der Sprache, keine Landesgrenze, sie haben Alle nur ein Interesse, die Befreiung aus den Fesseln der Geldherrschaft, sie haben Alle einen Unterdrücker, und das macht sie gleich und vereinigt sie, sie müssen insgesamt ihn stürzen, denn keiner von ihnen kann frei sein, wenn es nicht Alle sind.«

Das sogenannte einfache Volk von Berlin hatte seine Solidarität mit unterdrückten Völkern bereits am 20. März 1848 praktisch gezeigt – als es Ludwik Mieroslawski und zahlreiche weitere im Moabiter Gefängnis inhaftierte und 1847 zu langjährigen Haftstrafen oder zum Tode (dann allerdings begnadigte) Polen befreite und im Triumphzug durch die Stadt führte, ehe letztere in das preußisch besetzte »Großherzogtum Posen« zogen, um dort – vergeblich – einen souveränen polnischen Staat auf demokratischer Grundlage zu schaffen.

Ein weiterer Anlauf, die Revolution zu vertiefen, ging von den »Bezirksvereinen« aus. Vorbild dieser im späten Frühjahr 1848 in allen Berliner Stadtteilen entstehenden Vereine waren die Assemblées Générales, die Aktivbürger-Vollversammlungen der insgesamt 48 Pariser Sektionen, in die die französische Hauptstadt ab Mai 1790 aufgeteilt worden war. Diese »Bürgervollversammlungen«, der sämtliche (männlichen) Einwohner angehörten, wählte ihrerseits Bürgerausschüsse, die die Forderungen der »Commune« an die städtische Exekutive weitergaben, damit diese sie vollzogen – und gleichzeitig selbst eine Vielzahl eigener Aktivitäten entwickele. Ganz ähnlich die Berliner Bezirksvereine 1848. Sie feierten »Verbrüderungsfeste«, waren Foren, vor denen sich die Abgeordneten rechtfertigen sollten und wurden gleichzeitig zum Ausgangspunkt für unterschiedlichste soziale »Kiezaktivitäten«. Einige dieser Bezirksvereine forderten – vergeblich – die Preußische Nationalversammlung auf, den revolutionären Schritt zu tun, den der »dritte Stand« am 17. Juni 1789 getan hatte und sich zur allein gesetzgebenden Nationalversammlung zu erklären – konkret: »sich als Ausdruck des souveränen Volkswillens selbst als souverän und bis zur Beendigung des Verfassungswerks für unauflöslich, [die eigenen] Beschlüsse aber als verbindlich für Krone und Regierung zu erklären«.

Dennoch ist die Revolution gescheitert. Warum? Das lag zum einen an den gesamteuropäischen Konstellationen: Mit Paris und dem blutigen Bürgerkrieg dort Ende Juni, der »Junischlacht« und mit der drei Monate darauf niedergeschlagenen Wiener »Oktoberrevolution« war die zweite der drei Revolutionsmetropolen aus dem Revolutionsgeschehen ausgeschieden. In Berlin hatte die Krone danach leichtes Spiel: Das am 8. April 1848 einseitig von Friedrich Wilhelm IV. erlassene Wahlgesetz sah die unbedingte »Vereinbarung« zwischen Krone und Parlament als Richtschnur legislativen Handelns vor. De facto hatte der König damit ein Vetorecht gegenüber der Verfassung und bei allen Gesetzen. Anfang September brach er das von ihm selbst gesetzte »konstitutionelle Prinzip« – und putschte. Er ließ gegen den ausdrücklichen Willen der Preußischen Nationalversammlung den Grafen Brandenburg, seinen (illegitimen) Onkel, zum Ministerpräsidenten ernennen sowie wenig später General Wrangel an der Spitze von 10 000 Soldaten in Berlin einmarschieren und den Belagerungszustand ausrufen. In den Monaten zuvor hatten es Berlins Demokraten versäumt, die tiefen politischen Risse auch in der preußischen Armee zu nutzen – die am 12. September 1848 in Potsdam, in der den preußischen Militärstaat am deutlichsten verkörpernden Stadt, sogar zu einer Revolte geführt hatte. Sie hätten der Hohenzollernherrschaft die letzte Stütze entwinden können.

Die Revolution ist zwar gescheitert. Dennoch sogen aus ihr insbesondere die frühe Arbeiterbewegung und die Demokraten langfristig enorme politische Energien. Davon zeugen nicht zuletzt die alljährlichen, zehntausende Teilnehmer zählenden politischen »Wallfahrten« am 18. März zum Friedhof der Märzgefallenen, die 1849 begannen und von der – damals noch programmatisch revolutionären – Sozialdemokratie aufgegriffen wurden und bis 1919 den »18. März« zum »1. Mai vor dem 1. Mai« machten.

Rüdiger Hachtmann ist emeritierter Professor der TU Berlin und Senior Fellow am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; der Autor eines Standardwerkes zu 1848/49 ist an der mehrbändigen, von Walter Schmidt herausgegebenen Edition »Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848/49« beteiligt, dieser Tage erschien von ihm »1848 – Revolution in Berlin« (be.bra, 240 S., geb., 26 €).

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