Ideologie und Befehlslage

Der Historiker Hannes Heer sprach in Bremen über deutsche Kriegsverbrechen und den Ukraine-Krieg

  • Jörg Werner
  • Lesedauer: 4 Min.
Hannes Heer bei einer Diskussionsveranstaltung zum Thema Auschwitz-Prozess: 50 Jahre danach.
Hannes Heer bei einer Diskussionsveranstaltung zum Thema Auschwitz-Prozess: 50 Jahre danach.

Am vergangenen Donnerstag sprach der Historiker Hannes Heer in Bremen über den »Vernichtungskrieg im Osten«, also »über Kriegsverbrechen der regulären deutschen Streitkräfte auf dem heutigen Gebiet der Ukraine, Belarus und Russlands«, wie es in der Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung hieß. Es ist Heers großes Thema, mit dem er in den 90er Jahren bekannt wurde, als er die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« organisierte – und die Konservativen taten, als hätten sie davon noch nie etwas gehört.

Am Freitag gab die Bühne des alternativen Kulturzentrums »Kukoon« mit gemütlicher Wohnzimmerecke samt Möbeln aus den 50ern dem Vortrag Hannes Heers etwas Authentisches; machte es vorstellbarer, wie nach dem Krieg Väter und Großväter bei Hawaii Toast, Käseigel und Asbach Uralt ihre Kriegserlebnisse erzählten – oder darüber schwiegen. In diesem Sinne leitete der Moderator das Thema ein.

Sowohl die Hitler-Zitate wie auch die Feldpostkarten, die Heer vorliest, belegen eindrucksvoll, dass die ideologische Zurichtung der Wehrmachtssoldaten schon vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wirksam war. Die wenigen Wochen direkt nach Beginn der Invasion sind der Untersuchungszeitraum, auf den er sich bezieht – eine Leerstelle in der historischen Forschung, die er füllen will. Eine Art Leerstelle findet er auch in der Befehlsstruktur der Wehrmacht, die sich in diesem Zeitfenster in ihrem Auftreten gegenüber der Bevölkerung in den gerade besetzten Gebieten noch weitgehend auf sich selbst gestellt sah. Folgerichtig war es deshalb ihre mitgebrachte Vorprägung, die handlungsleitend an die Stelle detaillierter Befehle trat. Konkret bedeutete das, dass ihre Wahrnehmung von dem, was sie in diesen Kriegstagen vor Ort wahrnahmen, bestimmt war von ihrer rassistischen und demagogischen Prägung. Das ist erkennbar an Äußerungen von deutschen Soldaten, die die Juden in den besetzten Gebieten als »noch schlimmer als im ›Stürmer‹« erlebt haben wollen. Bei ihren rassistischen Mordtaten wirkte die faschistische Ideologie antreibend, nicht etwa die »Befehlslage«, um fünf, zehn oder fünfzig Juden nach Belieben auszusondern und kurzerhand zu erschießen. In dieser Feststellung unterscheidet sich Heers Untersuchung von denen der Wehrmachtsausstellung, denn unter solchen Voraussetzungen ist jedes Berufen auf einen Befehlsnotstand obsolet und Zweifel an einer individuellen Zurechenbarkeit gegenstandslos.

In der anschließenden Diskussion möchte ein Zuhörer in der ersten Reihe unüberhörbar dagegen halten, was den Referenten aber nicht aus der Fassung bringt. Da sei er anderes gewohnt, wie er nebenbei einfließen lässt. Dann aber wird er von einer jungen Frau gefragt, was er mit diesem Wissen denn zum heutigen Ukraine-Krieg zu sagen habe, schließlich ist das eine Veranstaltung der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung. Heer beginnt seine Antwort mit dem Rückblick auf die mündliche, nicht vertragliche Zusage zum Verzicht auf eine Nato-Ostweiterung des Westens gegenüber Russland. Er sieht diesen Moment als historische Möglichkeit, aber auch als Kipppunkt für die weitere Entwicklung. Dann wird Heer bedächtig, macht Pausen und landet beim Stichwort Pazifismus – »aber in Grenzen«. Denn mit »Wagenknecht und ihrem Gefolge« möchte er nichts zu tun haben, sagt er.

Als er von »verfaulten Pazifisten« spricht, macht sich unter der Mehrzahl der 70 Zuhörenden, die seinetwegen gekommen sind, Irritation, ja Beklemmung und Ratlosigkeit breit. Der Maidan Ende 2013/Anfang 2014 sei der »Nucleus« einer demokratischen Entwicklung in der Ukraine gewesen, die dazu geführt habe, dass der jetzige Präsident Selenskyj ein neues demokratisches System etabliere, sagt er. Bei der Frage nach den deutschen Waffenlieferungen kommt ihm eine Zuhörerin zuvor. Offenbar aus der Ukraine, spricht sie aufgeregt davon, dass Geld und Waffen doch keine Lösung seien, »schließlich wollen die Ukrainer doch wieder zurück. Denken Sie, diese Menschen hier sind glücklich?«. Einzig ein ehemaliger Bürgermeister der Grünen brüllt ungefragt los – peinlich. Nach Zurufen aus dem Saal wiegelt Heer ab und meint, auch die USA seien kein verlässlicher Partner, jedenfalls keiner, dem er etwas zutraue. Er sehe sich allgemein mit einem »Moloch« von Informationen konfrontiert, mit einem »Geflecht von Verschwörungstheorien« und bitte um Verständnis für seine Verunsicherung. In Sachen Friedenspolitik traue er allerdings auch den Grünen nichts zu.

Jetzt greift der Moderator zur Notbremse, reklamiert eine »Verschiebung des Themas«, sodass Heer noch sein bevorstehendes Forschungsvorhaben ankündigen kann: Auf die Frage »Was ist Anti-Slawismus?« will Hannes Heer demnächst eine Antwort finden.

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