Warnstreik zeigt den Schulterschluss der Beschäftigten

Die nächste Tarifrunde im öffentlichen Dienst wird von Arbeitskämpfen von seltenem Ausmaß begleitet

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit breiter Brust geht die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) in die dritte Runde der Tarifverhandlungen für die rund 2,5 Millionen Tarifbeschäftigten im öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen. Diese beginnt an diesem Montag in Potsdam und soll bis einschließlich Mittwoch dauern. In den vergangenen Wochen hat die Gewerkschaft mit Warnstreikwellen in allen Bundesländern und fast allen Branchen ihre Mobilisierungsfähigkeit eindrücklich unter Beweis gestellt. Schwerpunkte waren der Personennahverkehr, kommunale Kliniken, Kindertagesstätten sowie die Müllabfuhr.

Zwar sind Warnstreiks während der meist mehrere Monate andauernden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst nicht ungewöhnlich, doch sowohl quantitativ als auch qualitativ weht diesmal ein deutlich rauerer Wind als zuvor. In den vergangenen Wochen haben sich laut Verdi rund 400 000 Beschäftigte an den Streiks beteiligt. Verknüpft wurde das auch mit den schwelenden Tarifkonflikten bei den Boden- und Servicediensten an den Flughäfen. Dort sorgten Arbeitsniederlegungen an einigen Tagen für die weitgehende Einstellung des Flugverkehrs in Deutschland. Auch der Hamburger Hafen wurde zeitweilig lahmgelegt.

Die Härte der aktuellen Tarifauseinandersetzung erklärt sich vor allem aus den enormen Reallohnverlusten, die die Beschäftigten durch die galoppierende Inflation zu verzeichnen haben. Zumal der weitere Verlauf der Preisentwicklung nicht absehbar ist. Selbst optimistischen Schätzungen zufolge wird die Inflation im laufenden Jahr im Schnitt bei immer noch 6,4 Prozent liegen. Besonders die unteren Lohngruppen sind davon überproportional betroffen, da die besonders stark gestiegenen Preise für Energie und Lebensmittel in deren Haushalten einen viel größeren Anteil am Budget ausmachen.

Daher hat die Gewerkschaft von vornherein betont, dass eine Lohnerhöhung um mindestens 500 Euro einen besonderen Stellenwert in dieser Tarifauseinandersetzung hat. Zwar gehören relativ hohe Sockelbeträge für Geringverdiener als »soziale Komponente« schon seit langem zum Forderungskatalog von Verdi. Sie wurden aber in den vergangenen Tarifrunden zumeist sang- und klanglos »beerdigt«. Für Beschäftigte in den unteren Entgeltgruppen würden 500 Euro eine Lohnerhöhung um bis zu 20 Prozent bedeuten, also deutlich mehr als die von Verdi geforderte Anhebung um 10,5 Prozent für alle.

Die Verhandlungsführer des Bundes und der Vereinigung kommunaler Arbeitgeber (VKA) bezeichneten die Forderungen der Gewerkschaft als »überzogen« und »nicht finanzierbar«. Verdi wertet wiederum das bisherige Angebot der Gegenseite als »Provokation«. Demnach sollen die Tabellenentgelte in zwei Stufen zum 1. Oktober 2023 um drei Prozent sowie ab 1. Juni 2024 um weitere zwei Prozent erhöht werden, bei einer Gesamtlaufzeit von 27 Monaten. Dazu käme eine Sonderzahlung in zwei Raten von insgesamt 2500 Euro.

Ob es angesichts der großen Diskrepanz zwischen Angebot und Forderungen bei der bevorstehenden Verhandlungsrunde zu einer Einigung kommt, ist ungewiss. Als Knackpunkt könnte sich dabei der hohe Sockelbetrag für die unteren Einkommensgruppen erweisen, denn besonders bei diesem Punkt gibt es von vonseiten der Gewerkschaftsbasis hohe Erwartungen. Denkbar ist, dass auf Grundlage eines verbesserten Angebots eine weitere Verhandlungsrunde vereinbart wird. Aber auch ein Scheitern der Gespräche ist nicht ausgeschlossen. Dies könnte dann zur Einleitung einer Urabstimmung über unbefristete Streiks führen, was wiederum in ein Schlichtungsverfahren münden könnte. Trotz hoher Kampfbereitschaft der Mitglieder ist also längst nicht entschieden, ob es zu flächendeckenden, unbefristeten Arbeitsniederlegungen kommen wird.

Auch am Freitag waren die Warnstreiks unvermindert fortgesetzt worden. Schwerpunkt war diesmal der öffentliche Nahverkehr in zahlreichen Städten in mehreren Bundesländern, darunter Hessen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Sachsen. Gestreikt wurde ferner in einigen Kliniken und bei kommunalen Sozialdiensten.

Doch das alles ist wohl nur ein kleines Warm-up für diesen Montag, an dem es parallel zu den Verhandlungen zu ganztägigen und branchenübergreifenden Arbeitsniederlegungen in einem Ausmaß kommen soll, wie es in bundesdeutschen Tarifauseinandersetzungen äußerst selten ist. Verdi will an diesem Tag Beschäftigte an allen Flughäfen, in kommunalen Nahverkehrsbetrieben in sieben Bundesländern, in Teilen der kommunalen Häfen, der Autobahngesellschaft und der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zum Streik aufrufen.

Zusätzliche Schlagkraft soll dieser Warnstreik durch den Schulterschluss mit der Eisenbahngewerkschaft EVG erhalten, die mit einer Forderung nach zwölf Prozent mehr Lohn und einem Mindestbetrag von 650 Euro pro Monat in die Tarifverhandlungen mit der Deutschen Bahn und rund 50 weiteren Schienenverkehrsbetreibern gegangen ist. Auch dort gibt es bislang kein aus Sicht der Gewerkschaft verhandlungsfähiges Angebot der Unternehmensvertreter. Die EVG will zeitgleich mit Verdi den Schienenverkehr bestreiken und weitgehend lahmlegen. Die Deutsche Bahn AG hat bereits angekündigt, dass sie deshalb von vornherein den gesamten Fernverkehr am Montag einstellen wird und auch der Regionalverkehr nur rudimentär aufrechterhalten werden kann.

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