Fahrradkuriere in Berlin: Die letzte Meile

Ein Lastenkurierdienst entlässt massenhaft Fahrer. Die wollen sich das nicht gefallen lassen

  • Katja Bock
  • Lesedauer: 6 Min.
Rollende Straßenbande: Lastenradkurier*innen protestieren gegen Entlassungen
Rollende Straßenbande: Lastenradkurier*innen protestieren gegen Entlassungen

Goldene Rettungsfolie flattert im Wind. Auf zwei leuchtend orangenen Jacken prangt der Schriftzug des Lieferdiensts Lieferando. Die Spitze des Fahrradkorsos bildet ein Lastenrad mit Musik: Es tönen Lieder über Arbeit, Widerstand und Geldnot aus der Box. 

»This is my last mile« steht in roten Buchstaben auf einem Pappkarton. Das Schild ist durchweicht vom Regen, denn es nieselt seit dem Beginn der Fahrt. In Jeans und Sneakern tritt Matěj in die Pedale, das Schild baumelt von seinem Rucksack. Mütze und Kapuze hat er sich tief ins Gesicht gezogen. »Dass ich diese Stelle gefunden habe, war Zufall. Ich habe vorher nie so etwas gearbeitet, weil ich in einer anderen Branche tätig war«, sagt er. »Zuerst hatte ich das Gefühl, dass ich es tun muss, aber dann habe ich angefangen, die Arbeit zu mögen. Sie ist hart, aber gut. Wenn ich müde nach Hause komme, ist das für mich gesünder als Büroarbeit.« In der Vergangenheit hat er als Grafikdesigner gearbeitet. Besonders die ständige Konkurrenz um Aufträge habe ihm in dieser Branche zu schaffen gemacht, erzählt Matěj. Diese steht im Kontrast zu dem kollegialen Zusammenhalt, den er im vergangenen Jahr als Lastenradkurier erfahren hat. Für Matěj endet diese Zeit jedoch frühzeitig: Wie viele seiner Kolleg*innen wurde er entlassen. Wie es für Matěj nach dem überraschenden Ende des Arbeitsverhältnisses weitergeht, weiß er nicht.

Matějs Arbeit als Kurierfahrer, die Lieferung von Ware bis zur Haustür, wird in der Logistikbranche »Last-mile-delivery« beziehungsweise »Letzte-Meile-Logistik« genannt. Die letzte Meile heute fährt Matěj nicht mehr für Kund*innen, sondern für seine ehemaligen Kolleg*innen und sich selbst. Sie fahren in einer Gruppe von etwa 20 Personen durch die Straßen Berlins und protestieren gegen Entlassungen beim Firmengeflecht Velocarrier GmbH und Ecocarrier AG im Januar 2023. Der Kurierdienst beliefert Privatkunden mit Biokisten und Einkäufen. Nachdem der Großkunde REWE den Vertrag aufgekündigt hatte, wurde entschieden, den Standort Berlin aufzugeben. 20 Fahrer*innen wurden im Zuge dessen gekündigt. Matěj und viele seiner ehemaligen Kolleg*innen haben vor dem Arbeitsgericht geklagt: Gegen ihre unrechtmäßige Kündigung, wegen ausstehender Löhne – oder wegen beidem. Ursprünglich sollte heute der Termin von einem von Matějs Kollegen stattfinden, doch Velocarrier hat den Termin kurzfristig abgesagt. Die Ladung für den Termin sei postalisch nicht korrekt zugestellt worden.

Vor dem S-Bahnhof Greifswalder Straße biegen die Radfahrer*innen ab und nehmen den Sandweg in Richtung Brache. Die Wut über schlechte Arbeitsbedingungen und die Ungerechtigkeit der Kündigungen liegt in der Luft. »Die Anstrengungen der letzten Monate haben uns hierher geführt, heute ist eine Art Höhepunkt dessen, was wir tun«, sagt Matěj. Die Protestierenden auf den Fahrrädern werden bereits von einer Bühne erwartet. Auf dem umzäunten Gelände, das einst der Arbeitsplatz der Demonstranten war, stehen mehrere Container für die E-Lastenräder und einer, der als Büro dient. Auf den Gepäckträgern der markanten E-Lastenräder sind große Boxen angebracht. Mit ihnen haben die Angestellten von Velocarrier monate- oder jahrelang ihre Lieferungen durch die Straßen manövriert. Mittlerweile lassen sich viele Menschen so ihre Einkäufe regelmäßig nach Hause liefern. Die letzte Transportmeile ihrer Einkäufe überwindet jemand anderes für sie. Für wen die Lieferant*innen arbeiten, wussten die Kund*innen normalerweise nicht. Somit wird sie auch die Information nicht erreichen, dass die Menschen, die ihnen regelmäßig ihr Essen nach Hause brachten, ihren Job verloren haben.

Neben der Bühne steht Anna. Sie ist mit Karteikarten beschäftigt. Gleich wird Anna im Namen der Betriebsgruppe die erste Rede halten. Die Betriebsgruppe in der Freien Arbeiter*innen-Union (FAU) gibt es seit etwa einem halben Jahr. Wie viele ihrer Kolleg*innen ist Anna in den vergangenen Monaten der FAU beigetreten. Nachdem Anna über zwei Jahre für Velocarrier gearbeitet hat, hat sie ebenfalls eine Klage gegen das Unternehmen eingereicht. Anders als Matěj war sie damals, frisch nach Berlin gezogen, auf der Suche nach einem Job als Fahrradkurierin. »Das Beste war die Arbeit, dass ich alleine war, dass ich alles selber machen konnte, alleine durchziehen. Also nur kurz an der Tür nett sein, mein Ding machen, draußen an der Luft, dass ich mich bewegt hab«, sagt sie. »Dadurch war ich auch richtig fit und bei Rewe haben wir gutes Trinkgeld bekommen. Was ich nicht gut fand, waren die Bedingungen, unter denen die Arbeit stattgefunden hat.«

Bevor Anna ihre Rede hält, findet eine Schweigeminute für Christian Jäger, eine Berliner Fahrradkurierlegende, statt. Er verstarb im Februar 2022, nachdem er bei einer Fahrt als Radkurier unweit vom Brandenburger Tor von einem Pkw erfasst wurde. Die anwesenden Kurier*innen auf der Kundgebung wissen: Die tägliche Arbeit auf einem E-Rad im Straßenverkehr ist gefährlich. Insbesondere, wenn es nicht regelmäßig gewartet wird, Bremsen nicht funktionieren oder der Motor streikt. Viele hier hätten diese Risiken zu häufig ignorieren müssen, sagt Anna in ihrer Rede, aus Angst, am Ende des Monats weniger gearbeitet zu haben und deswegen weniger Gehalt ausgezahlt zu bekommen. Velocarrier warb zwar mit besonders guten Arbeitsbedingungen in der chronisch prekären Fahrradbranche – doch real wurden die E-Räder nur selten gewartet und fielen nicht selten im laufenden Betrieb im Straßenverkehr aus. 

Viele Fahrer*innen fühlten sich auch durch das Liefertempo, das der Arbeitgeber den Auftraggeber*innen ohne Rücksicht auf die Sicherheit der eigenen Angestellten verspricht, unter Druck gesetzt. Auch nicht gezahlte Löhne und die falschen Versprechungen durch das Management im vergangenen November, dass die Angestellten sich keine Sorgen um ihre Arbeitsplätze machen müssten, erwähnt Anna. Das ökosoziale Image, das sich Velocarrier öffentlich gibt, verliert in Anbetracht dieser Schilderungen an Glaubwürdigkeit. 

Die Rede endet mit den Konsequenzen, die die ehemaligen Kolleg*innen aus dem Verhalten ihres Arbeitgebers gezogen haben: Sie fordern Abfindungen, klagen vor Gericht und protestieren. Zum Ende der Rede jubeln die Anwesenden. Annas Karteikarten wandern zurück in die Jackentasche.

Später erzählt Anna glücklich: »Ich fühle mich, als würde ich endlich mal was Sinnvolles machen, dass ich was Wichtiges tue.« So wie Anna hat auch Matěj zwar seinen Job verloren, aber etwas Wichtiges gewonnen. »Ich habe vergessen, die Menschen zu erwähnen: Wenn man anfängt, diese schlechten Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen, dann wird klar, man sitzt im selben Boot, man kann was tun«, sagt er. »In Zukunft werde ich eine neue Perspektive auf die Dinge haben, weil ich jetzt die Erfahrung habe, wie es ist, mich mit anderen zu organisieren und zu kämpfen.«

Die nächste Fahrraddemo ist schon geplant. Am Samstag um 13 Uhr veranstalten Anna, Matěj und ihre Kolleg*innen die nächste Kundgebung in der Werbellinstraße in Neukölln: Unweit eines ehemaligen Hubs der Lastenradkurier*innen und vor einer Filiale des Velocarrier-Kunden REWE. 15 Kläger*innen stehen weiterhin vor Gericht, zu Einigungen vor Gericht kam es nur in Ausnahmefällen. Als Raimund Rassilier, der Geschäftsführer von Velocarrier, vor einigen Wochen zustimmte, sich mit den ehemaligen Angestellten und der FAU zu Verhandlungen zu treffen, keimte Hoffnung auf, den Konflikt außergerichtlich beilegen zu können. Da jedoch unklar bleibt, ob die Geschäftsführung an einer zweiten außergerichtlichen Verhandlungsrunde teilnehmen wird, haben die Lastenradlieferant*innen entschieden, ihre Forderungen ein weiteres Mal öffentlich kundzutun. Vorerst geht die letzte Meile also in Verlängerung.

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