Auflösungs­erscheinungen

Dem Feiertagsirrsinn auf der Spur, Konsumterror und Zerstörungswahn inklusive

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Wie schön ist Weihnachten! Am schönsten, wenn es vorbei ist.
Wie schön ist Weihnachten! Am schönsten, wenn es vorbei ist.

Dass meine Mutter sich von den Müttern anderer Kinder unterschied, merkte ich am 24. Dezember. Es war der Morgen vor dem Heiligen Abend, und wir waren losgegangen, um letzte Besorgungen zu machen, um ein großes Stück Wildfleisch zu kaufen, Kerzen und Geschenkpapier, das uns ausgegangen war, weil wir uns, wie immer, mehr schenkten, als wir uns vorgenommen hatten.

Wir spazierten über den Marktplatz der kleinen Stadt, in der wir wohnten, auf dem Weg in das einzige Kaufhaus (in dem ich Jahre später beim Schminkeklauen erwischt wurde), und sie erwähnte, wie nebenbei, wie schön sie es fände, wenn der Weihnachtsmarkt sich endlich auflöste. Mein liebster Tag im Jahr, sagte sie. Erst in diesem Moment sah ich mich um und nahm bewusst wahr, was mich umgab: Die Holzbuden, aus denen vorher heiße, fettige Teigwaren verkauft worden waren, waren jetzt zugenagelt, die Tannen, die an die Bretter getackert gewesen waren, lagen kreuz und quer im Schneematsch, halbnackt, ihre Nadeln zogen sich über den ganzen Marktplatz, am Rathaus vorbei und die Straße entlang in Richtung des großen Parks. Betrunkene Teenager hatten die Dekorationsobjekte am Abend vorher von den Bretterbuden gerissen und in einer Art verspieltem Vandalismus hinter sich her zur nächsten Straßenecke gezogen.

Schon am Tag vor dem Heiligen Abend wurde der Weihnachtsmarkt geschlossen – der Verfall begann bereits vor dem großen Finale, die Händler*innen ließen es sich entgehen, ein gutes Geschäft mit Last-Minute-Weihnachtsgeschenken zu machen. Tradition war wichtiger als der Umsatz. Schon den ganzen Dezember lang hatten sich Teenager verabredet, um Kunsthandwerk als Weihnachtsgeschenke für ihre Eltern und Großeltern zu shoppen, Laubsägearbeiten und emaillierte Broschen – Geschenkartikel, die die (Ur-)Großelterngeneration selbst hatte herstellen müssen, als sie Jugendliche waren. Adoleszente wurden damals noch »Backfische« genannt. Die Geschenkartikel wurden (auf dem Weihnachtsmarkt der Kleinstadt) von Ladenhütern zu Staubfängern.

Die Teenager hatten sich natürlich nur vorgeblich zum Geschenkeshoppen verabredet, sie trafen sich auch, um jene heißen, fettigen Teigwaren zu essen und vor allem um literweise Glühwein zu trinken. Die Teigwaren unterschieden sich kaum voneinander, außer dass die süßen rund und mit Puderzucker bestäubt waren, während die salzigen länglich und platt waren und mit Schmand und halb geschmolzenem, industriell geriebenem Edamer aus der »Kaisers A&P«-Tüte (Attraktiv und Preiswert) bedeckt. Manche der Backwaren wurden kurz danach von den Teenagern wieder erbrochen, es war die Kombination von zu viel Glühwein und dem winzigen Riesenrad (das seinen Namen wirklich nicht verdiente).

Ich, etwa zehn Jahre alt, wusste nicht, was ich mit der Information anfangen sollte, dass meine Mutter die Zerstörung des Betulich-Traditionellen so schätzte. Es war eine Information, die sich nicht vermitteln ließ, weder anderen Kindern noch anderen Erwachsenen gegenüber. Es war der erste Moment, in dem mir bewusst wurde, dass nicht alles, was meine Mutter sagte, in eine soziale Wirklichkeit einzuordnen war – es ging nicht nur um soziale Distinktion, es ging vor allem um ästhetische Abgrenzung. Dass sie fähig war, etwas, das von anderen (Müttern) einfach als dreckig wahrgenommen worden wäre, eine Art anarchistische Schönheit abzugewinnen, verunsicherte mich zutiefst. Ein bisschen so wie, als mein Vater antwortete, nachdem ich vor ihm den Satz wiederholte »Man soll sich immer selbst treu bleiben« (meine Grundschullehrerin hatte ihn mir nahegelegt), dass zeitgenössische Philosoph*innen davon ausgingen, dass es ein solches Selbst gar nicht gebe. Als ich am nächsten Tag in der Schule die Hand hob und vor der ganzen Klasse den (ohnehin wahnsinnig verkürzten) Satz wiederholte, zeitgenössische Philosoph*innen glauben nicht an ein Selbst, sah ich nicht in abweisende, sondern in ratlose Gesichter: viel schlimmer.

Bei dir zu Hause ist es immer so keimig, sagte eine Schulkameradin, die ich sehr bewunderte. Die vergnügte Unangepasstheit meiner Mutter war mir nichts als unangenehm. Du bist so ein spießiges Kind, sagte mein Vater zu mir. Ich bin auch eine konservative Erwachsene geworden – Verhaltensformen, Formen des Konsums, des Schenkens und des Begehrens »konservierend«, die ich mir von den Eltern der anderen Kinder abschaute, im Kontrast zu denen meiner eigenen Eltern.

Dass auch ich, wie meine Mutter, eine solche Liebe zu Auflösungserscheinungen habe, merkte ich spätestens an Silvester, das heißt am ersten Januar, als ich mit hohen Schuhen von irgendeiner Wohnung, in der ich aus Versehen eingeschlafen war, nach Hause wankte. Nach mehreren durchböllerten Wochen war es endlich still, und ich stakste restalkoholisiert durch den von Böllerüberresten rot angelaufenen Schneematsch und genoss die Ruhe nach dem Sturm. Die ganze Stadt roch giftig und vertraut, überall lag matschige und nach Schwefel und Kohlenmonoxid stinkende Pappe – der Schnee schien blutrot, nein, eher rostrot (und manchmal auch grün oder blau). Mein liebster Tag im Jahr, dachte ich und rief meine Mutter an, um ihr ein frohes neues Jahr zu wünschen (wozu ich am Abend vorher zu betrunken gewesen war).

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