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  • Indien überholt China als bevölkerungsreichstes Land der Erde

Indiens wachsendes Selbstbewusstsein

Die hindunationalistische Regierung setzt auf Bevölkerungszahl und Blockfreiheit im globalen Machtpoker

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 4 Min.
Straßenszene zur Rush hour, Varanasi, Benares, Uttar Pradesh, Indien, Asien
Straßenszene zur Rush hour, Varanasi, Benares, Uttar Pradesh, Indien, Asien

Ganz sicher, dass Indien als bevölkerungsreichstes Land nun Mitte April an China vorbeizieht, dieser Moment erst zum Jahresende erreicht wird oder sogar schon stattgefunden hat, sind sich selbst die Statistikexpert*innen nicht. Das Problem: Zu China, dessen Bevölkerung im demografischen Wandel 2022 erstmals leicht schrumpfte, gibt es recht verlässliche Daten des jüngsten Zensus vom November 2020. Die letzten Erhebungen aus Indien, auf die sich die Wissenschaft stützen kann, stammen aber vom Zensus 2011, sind also mehr als ein Jahrzehnt alt – die regulär 2021 anstehende Volkszählung musste wegen der Corona-Pandemie verschoben werden. Seither behelfen sich die Fachleute mit statistischen Fortschreibungen, die um einiges ungenauer sind als eine neue Datenerhebung.

Doch der genaue Zeitpunkt ist zweitrangig. Indien ist 2023 die neue Nummer eins der Weltrangliste in Sachen Bevölkerungszahl. Und damit einher geht ein spürbarer Bedeutungszuwachs auf geopolitischer Ebene. Mit dem Nachbarn, Rivalen und oft genug auch Partner China, das auf diesem Sektor jetzt nur noch die Nummer zwei ist, kann sich Indien zwar generell noch nicht ganz messen. Weder verfügt die Regierung in Neu-Delhi über einen dauerhaften Sitz im Weltsicherheitsrat, noch steht die indische Wirtschaftskraft schon auf Augenhöhe mit der chinesischen. Dennoch ist auch Indien seit Jahrzehnten Atommacht. Und gerade mit dem aktuellen Vorsitz der G20 für ein Jahr will Premier Narendra Modi sein Land noch stärker auf internationaler Bühne verankern, dass an Indien (und bei einem wahrscheinlichen erneuten Wahlsieg 2024 auch an ihm selbst) niemand vorbeikommt.

Die gewachsene Rolle als neuer Global Player ließ sich schon an den prominenten Staatsgästen ablesen, die sich allein in den vergangenen Wochen die Klinke in die Hand gaben. Bundeskanzler Olaf Scholz, der dabei den Anfang machte, wurde ebenso von einer großen Wirtschaftsdelegation begleitet wie kurz darauf Australiens Regierungschef Antony Albanese. Etwas später flog noch der japanische Premier Fumio Kishida zu einem zweitägigen Besuch in Delhi ein. Dass bei seiner Ankunft am 19. März genau ein Jahr nach seiner ersten Visite schon das zweite Zusammentreffen startete, hatte besondere Symbolkraft. So viel ranghohe Gäste aus dem politischen Westen in so kurzer Zeit, das unterstreicht in einer Zeit sich überlagernder globaler Krisen, wie sehr Indien und damit Modi umworben sind.

Albanese und Kishida ging es vor allem darum, die Einbindung in das neue Quad-Militärbündnis (mit den USA als viertem Partner), das sich gegen Chinas wachsenden Einfluss im asiatisch-pazifischen Raum richtet, zu bekräftigen. Scholz hingegen wollte den dafür kaum zugänglichen Modi zu mehr Distanz gegenüber Moskau im Angesicht des russischen Krieges in der Ukraine bewegen. Schließlich lehnt Indien eine klare Verurteilung Russlands in UN-Abstimmungen ab und will sich auch an Sanktionen nicht beteiligen.

Indisches Selbstbewusstsein ist gerade unter der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP), die seit 2014 regiert und das Land seither deutlich in ihrem ideologischen Sinne umzugestalten versucht, deutlich gewachsen. Das Verhältnis zu China wiederum stellt sich als äußerst komplex dar. Im formell 2009 gegründeten Bündnis Brics ziehen beide zusammen mit Russland, Brasilien und dem 2010 dazugekommenen Südafrika weitgehend an einem Strang. Partner sind sie auch in der Shanghai-Gruppe (Shanghai Cooperation Organisation/SCO), der Indien 2017 beitrat und in der es derzeit sogar turnusgemäß den Vorsitz führt. Beinahe freundschaftlich verlief die erste Begegnung zwischen Modi und Xi Jinping, als der chinesische Staats- und Parteichef im September 2014 mit seinem indischen Gastgeber in dessen Heimatstadt Ahmedabad einen Spaziergang am Sabarmati-Ufer vornahm. Auch beim informellen Zusammentreffen fünf Jahre später im zum Weltkulturerbe gehörenden südindischen Mamallapuram wirkte die Atmosphäre gelöst. Seither kriselte es aber wieder mehrfach im bilateralen Verhältnis. Der Streit um den 3400 Kilometer langen Grenzverlauf, der 1962 sogar zu einem Krieg führte, ist bis heute nicht ausgeräumt. Zuletzt waren die Spannungen 2020 im Gebiet Ladakh sowie im Dezember 2022 bei einer Konfrontation im Tawang-Distrikt, der im Dreiländereck Indien-Bhutan-China liegt, eskaliert. Chinas Neubenennung mehrerer geografischer Punkte im Grenzbereich von Indiens Unionsstaat Arunachal Pradesh sorgte erst dieser Tage für neue Verstimmung in Delhi, wo unterstellt wird, der Nachbar wolle damit Gebietsansprüche untermauern.

Eine Stimme für den Globalen Süden sein, multipolare Weltordnung statt US-Dominanz: Im Kern sind sich China und Indien darin durchaus einig. Die von seinem einstigen Amtsvorgänger Jawaharlal Nehru begründete Blockfreiheit ist für Modi aber kein Wert an sich, sondern betont zur Schau gestellte Eigenständigkeit nur eine Trumpfkarte im globalen Machtpoker.

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