Übergriffe gegen Schutzsuchende

Die tunesische Polizei drangsaliert weiter Migranten. Viele wollen das Land Richtung Europa verlassen

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 4 Min.

Bei einem Tränengaseinsatz vor der Zentrale des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) haben Polizisten am Dienstag mehrere Dutzend Migranten festgenommen. Vor dem Gebäude in dem Büro-und Diplomatenviertel Lac 1 hatten die in den letzten Wochen zu Hunderten aus ihren Wohnungen vertriebenen Menschen aus dem südlichen Afrika im Freien übernachtet. Wegen der zahlreichen Übergriffe gegen Migranten fordern sie eine Evakuierung in ihre Heimat. Doch die meisten haben weder Geld für den Rückflug noch gültige Reisepässe.

Begonnen hatte die Krise mit einer Rede von Präsident Kais Saied, der die bis zu 50 000 illegal im Land lebenden Migranten als Teil einer Verschwörung gegen Tunesien bezeichnete. Die meisten der über das benachbarte Libyen oder mit dem Flugzeug aus Westafrika eingereisten Migranten haben zwar keinen offiziellen Aufenthaltsstatus, finden aber problemlos eine Arbeit und Unterkunft. Seit der größten Ausreisewelle junger Tunesier im letzten Jahr suchen viele Restaurant- und Café-Besitzer händeringend nach Service- und Reinigungskräften. Anders als viele Tunesier akzeptieren die Migranten die angebotene Bezahlung unter Mindestlohnniveau.

Doch die Kampagne des Präsidenten geriet schon Stunden nach seiner Rede außer Kontrolle. Offiziell war sie nur gegen Migranten gerichtet, die ohne gültige Aufenthaltspapiere im Land leben, aber die Polizei brachte auch Universitätsstudenten alleine aufgrund ihrer Hautfarbe von der Straße weg in Abschiebehaft. Nachbarn und Mobs machten Jagd auf Gruppen von »Afrikanern«, die auf sozialen Medien für die steigende Kriminalität verantwortlich gemacht werden. Seit dem 21. Februar suchen viele aus ihren Wohnungen hinausgeworfene Migranten auch Schutz bei der Internationalen Organisation für Migration (IOM).

»In der anhaltenden Wirtschaftskrise waren die Migranten ein willkommener Sündenbock«, sagt Asma Moussa, Besitzerin eines Restaurants in der Menza 5, einem Stadtteil von Tunis. Die Elfenbeinküste, Guinea und andere Länder flogen einen Teil ihrer Staatsbürger Ende Februar aus. Wegen der überfüllten Gefängnisse stellte die Polizei auch die Verhaftungswelle ein. Doch immer noch verstecken sich Tausende Migranten aus Angst vor Übergriffen in ihren Wohnungen. Privatinitiativen versorgen sie mit Lebensmitteln und Geld für die Miete, auch wenn die Behörden diese Hilfe als illegal ansehen.

Die Staatsmedien zeigen den Polizeieinsatz aus einer anderen Perspektive. Mehrere Migranten hätten nach der brutalen Räumung ihres Camps Steine auf parkende und vorbeifahrende Autos geworfen. Die zerstörten Windschutzscheiben benutzen die Anhänger von Kais Saied als Argument für seine Kampagne. Auch das UNHCR hält sich mit Kritik am Vorgehen der Behörden sehr zurück. Der tunesische Außenminister Nabil Ammar reiste am Mittwoch nach Rom, um mit der italienischen Regierung über die zu erwartende Ausreisewelle zu sprechen.

Mit dem Tränengaseinsatz am Dienstagvormittag scheint eine Übergangslösung der Krise in weiter Ferne. UNHCR und IOM verhandeln seit Wochen mit der Regierung über die vorübergehende Legalisierung des Aufenthaltsstatus der Migranten. Wegen einer in Tunesien bisher fehlenden Asylgesetzgebung verfügen diese oft nur über Ausweise des UNHCR, die aber in Tunesien nicht anerkannt werden. Die Behörden verlangen weiterhin die bei Überschreitung der erlaubten Aufenthaltsdauer fällige Strafgebühr. Bürger westafrikanischer Staaten dürfen visafrei für drei Monate nach Tunesien einreisen. Wer nach mehreren Jahren Arbeit zurück in die Heimat will, muss außer dem Flugticket auch bis zu 4000 Euro Strafe zahlen. Ein Platz auf einem Boot nach Italien ist dagegen zurzeit für umgerechnet 1000 Euro zu haben.

Nach dem Polizeieinsatz vor dem UN-Gebäude wollen die meisten Migranten Tunesien schleunigst verlassen. »Bis gestern hatte ich noch gehofft, meinen Job in einer Autowerkstatt wieder aufnehmen zu können«, sagt Youssuf Kanneh aus Liberia. Sein Schlafsack und sein Zelt wurden am Dienstag zusammen mit dem Hab und Gut der anderen von Angestellten der Stadt unter Polizeischutz abtransportiert. Nun versteckt sich Kanneh bei Freunden, will sich am Wochenende auf den Weg in die Hafenstadt Sfax machen. Menschenrechtsorganisationen fürchten mit dem besser werdenden Wetter eine neue Rekordzahl von Booten, die nach Italien ablegen. Kanneh hat bereits einen Platz auf einem Boot nach Sizilien ergattert.

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