Deutschlands neues China?

Premierminister Modi will Indien in die erste Liga der Weltwirtschaft führen, doch Industrie und Gewerbe haben es schwer

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Der indische Sommermonsun ist eines der dynamischsten Wettersysteme unseres Planeten. Er wirkt wie ein gigantischer Fahrstuhl, der Treibhausgase bis zu einer Höhe von 20 Kilometern befördert. Kürzlich startete ein Höhenforschungsflugzeug mit einem Team des deutschen Forschungszentrums Jülich an Bord vom Flugplatz Kathmandu, um das Wetterphänomen besser zu verstehen. Millionen Daten wurden an eine Bodenstation in Nainital, einer auf 2000 Metern Höhe gelegenen Kleinstadt im nördlichen Bundesstaat Uttarakhand, gesendet.

Bisher gibt es kaum Messstellen für Klimagase in Indien. Dabei liegt das südasiatische Land beim Ausstoß von Treibhausgasen weltweit an vierter Stelle – nach China, den USA und der EU. Und wird schon wegen seiner schieren Größe immer wichtiger: An diesem Freitag dürfte Indien nach UN-Berechnungen mit mehr als 1,4 Milliarden Einwohnern China als bevölkerungsreichstes Land überholt haben. Die negative Klimabilanz spielt zugleich die extremen Gegensätze wider: Zeitgemäße Hochtechnologie trifft hier an der nächsten Ecke auf vormoderne Produktionsweisen in Landwirtschaft und Gewerbe.

»Indien ist die neue Wachstumsstory Asiens«, meint dennoch die Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, eine führende Denkfabrik, welche die Bundesregierung berät. Im Sommer 2022 haben die Europäische Union und Indien erneut Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen aufgenommen, das vor zehn Jahren noch an unüberbrückbar scheinenden Interessengegensätzen gescheitert war. Schon für die Jahre 2023 und 2024 prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) Indien hohe wirtschaftliche Wachstumsraten von über sechs Prozent, also deutlich mehr als für den bisherigen Weltwirtschaftsmotor China.

Doch die Situation der indischen Volkswirtschaft verlangt nach mehr. Mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von umgerechnet rund 3 Billionen Euro – weniger als Deutschland mit seiner 16mal kleineren Bevölkerung – hinkt Indien weit hinter der Großmacht China her (18 Billionen Euro). Entsprechend ist das Durchschnittseinkommen der Chinesen etwa sechs Mal so hoch wie das der Inder. Auch bei wegweisenden Wirtschaftsindikatoren wie Bildung, Korruptionsbekämpfung, Energie oder Außenhandel liegt Indien weit hinter der Volksrepublik zurück.

Über die langfristigen Wachstumsaussichten eines Landes im globalen Süden entscheidet nach Ansicht von Entwicklungsökonomen zuerst das verarbeitende Gewerbe. Hier sind die Produktivitätsgewinne weit größer als im Dienstleistungssektor oder in der Landwirtschaft. Außerdem kann der Sektor große Mengen ungelernter Agrar-Arbeitskräfte aufnehmen und so die Wirtschaftsleistung insgesamt quasi über Nacht steigern. Doch Industrie und Gewerbe haben es bislang schwer, schreibt Indien-Kenner Erik Lueth, Ökonom bei der britischen Finanzfirma LGIM. »Sein Anteil am Bruttoinlandsprodukt ist nicht nur niedriger als in anderen Ländern mit vergleichbarem Entwicklungsstand, sondern er schrumpft sogar.«

Indiens Regierung scheint sich der zentralen Bedeutung der Industrie bewusst zu sein. 2014 startete die Regierung von Narendra Modi ihre Kampagne »Make in India«. Deren Ziel: den Anteil des verarbeitenden Gewerbes am BIP des Landes bis 2025 von 15 auf 25 Prozent zu erhöhen. 2020 folgte ein Programm, das ausländische Unternehmen anlocken und die einheimische Produktion in Schlüsselsektoren fördern soll, wie es China vorgemacht hat. Doch Corona, hohe Energiepreise, eine lückenhafte Infrastruktur und Gesetzgebung sowie Modis autoritäre Politik verhinderten den Durchbruch. Aktuell ist der Industrieanteil sogar auf 13 Prozent zurückgefallen.

In Deutschland wird dagegen von Politik und Medien gerne die Erzählung verbreitet, Indien als »das nächste China« könne die chinesische Entwicklungsphase der verarbeitenden Industrie einfach überspringen. Das mag in Hotspots der Globalisierung wie der IT-Metropole Bangalore oder dem Finanzzentrum Mumbai gelingen. Das frühere Bombay ist laut der staatlichen Agentur Invest India die reichste Stadt der Welt: Hier werden 70 Prozent der Kapitaltransaktionen auf dem Subkontinent abgewickelt, und die 15-Millionen-Einwohner-Stadt beherbergt den größten Containerhafen des Landes.

Für den erhofften großen Sprung gibt es allerdings ein grundlegendes Problem: Im modernen Dienstleistungssektor sind nicht viele Menschen beschäftigt. So entfallen arbeiten in den Bereichen IT und Outsourcing von Geschäftsprozessen – meist für westliche Konzerne – nur etwas mehr als ein Prozent der indischen Erwerbsbevölkerung. Den zahlreichen superreichen Familien wie den Ambanis (Öl, Textil) oder Mittals (Stahl) sowie der wachsenden Mittelschicht steht die grassierende Armut gegenüber. Rund die Hälfte der Bevölkerung ist auf staatlich subventionierte Lebensmittel angewiesen.

Schon allein wegen der gewaltigen Einkommensunterschiede kann das nunmehr bevölkerungsreichste der Erde vorerst keinen Ersatz für den chinesischen Markt bieten, lautet das Fazit von Lukas Menkhoff, Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin. »Aber über die Zeit kann Indien ein wichtiges Element europäischer Handelsdiversifizierung werden.« Bis dahin ist allerdings noch viel Luft nach oben: Im »Sustainable Development Goals Index«, der die soziale und ökologische Nachhaltigkeit einer Volkswirtschaft misst, schneidet Indien mit Rang 121 von 163 Ländern ganz schlecht ab. Auch beim Umweltschutz ist China trotz seiner weit größeren Wirtschaftsleistung oder gerade deswegen Indien weit enteilt.

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