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DDR-Reporter Heinz Florian Oertel: Picasso stand Pate

Sportreporter-Legende stirbt mit 95

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Eigen, expressiv, extravagant, eisern lustvoll – dazu Mütze und Feldstecher immer in Reichweite: Heinz Florian Oertel
Eigen, expressiv, extravagant, eisern lustvoll – dazu Mütze und Feldstecher immer in Reichweite: Heinz Florian Oertel

Leidenschaft übt Gewalt aus, Leidenschaft knechtet uns, sie treibt den Schweiß, sie drillt die Muskeln, sie fesselt das Gemüt. Leidenschaft steigert unser Ungenügen am Gleichmaß der Existenz derart, dass ein Paradox entsteht. Nämlich ein Glück, dessen äußerer Ausdruck – Quälerei und Erschöpfung – leicht über das Eigentliche täuscht: gelingendes Leben. Wir nennen das: Sport. Wir kennen die Orte: Loipe, Sprungschanze, Boxring, Tartan-Bahn, Eisfläche, Spielfeld, Straße. Namen dazu kennen wir auch: Raissa Smetanina, Helmut Recknagel, Teófilo Stevenson, Lasse Virén, Katarina Witt, Pelé, Täve Schur.

Sportliches Geschehen, abgerungen der Langeweile des Alltags, schafft Sänger und Erzähler, denn das bewegende Ereignis will weitergegeben sein. Wie die Kunst. Es ist Kunst. Auch wenn sich die Sänger und Erzähler beim Sport nur Berichterstatter nennen. Oft sind sie auch nicht viel mehr. Sie schreiben oder sprechen, als gelte es unumstößlich, den Ball niedrig zu halten. Heinz Florian Oertel aber war Reporter einer ganz entgegengesetzten Art. Eigen, expressiv, extravagant, eisern lustvoll. Schausteller und sprachversessen. Einmalig.

An ihn musste ich denken, als 2014 bei der Fußball-WM der Kolumbianer James Rodríguez den Ball mit der Brust annahm und ihn, nach halber Drehung, volley mit dem linken Fuß unter die Latte des US-Tores jagte. Ein Rundfunkreporter aus Bogotá jubelte: »Ein Gemälde wie von Picasso!« Total daneben, dieser Vergleich, und doch auch ein Volltreffer. Picasso!? Ja! Solche Verstiegenheit muss sein. Die Oberfläche zwar Fußball, der Untergrund aber Ästhetik. Die Wirklichkeit Spiel, aber die Wahrheit Rausch. Das Picasso-Paradebeispiel hätte von Oertel sein können. Bei ihm klang das so: »Liebe junge Väter vielleicht oder angehende, haben Sie Mut: Nennen Sie Ihre Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar!« Der berühmteste Satz aus der Live-Reportage, als Waldemar Cierpinski 1980 in Moskau Marathon-Olympiasieger wurde.

Oertel wurde 1927 in Cottbus geboren, geriet als Matrose in britische Kriegsgefangenschaft. Schnellkurse prägten damals den Weg in den Frieden: Schauspieler, Lehrer, Reporter. Der junge Radiomann Oertel durfte die letzten Minuten des brandenburgischen Frauenhandball-Finals zwischen Luckenwalde und Jüterbog übertragen. Das entscheidende Tor bekam der ungeübte Chronist am Mikrofon nicht mit. Den Aufstieg behindert dies nicht. Oertel wird ab 1952 Kommentator nahezu aller internationalen Sporthöhepunkte. Erlebt acht Fußball-Weltmeisterschaften. Ist 17 Mal »DDR-Fernsehliebling«. Moderiert den »Kessel Buntes«, führt durch TV-Schlagershows und die populäre Radiosendung »He, he, he – Sport an der Spree«. Über 250 Mal heißt es in Adlershof: »Porträt per Telefon«: Oertel als Talk-Gastgeber. Ein Allrounder. Ein Versuchs-Enthusiast im Sinne des Handwerkers Zettel aus dem »Sommernachtstraum« von Shakespeare: »Lasst mich den Löwen auch noch spielen.« Er spielt ihn, wo er nur kann. Sein Gemüt ist untalentiert für das Tigerfell eines trägen Bettvorlegers.

Die Freude am Sport ist eine leichtlebige Religion, gerichtet gegen Fundamentalismus: Ehrgeiz ja, Eifer nein. Es ist eine Religion, die nicht weiter hinaufreicht, als ein Leichtathlet hochspringen oder ein Ball fliegen kann. Für schönen Sport muss nicht missioniert werden, Apostel sind nicht gefragt. Was man sieht, ist, was man sieht. Mehr nicht und nicht weniger. Aber den Kommentar wollen wir trotzdem hören, lesen.

Oertels TV- und Rundfunk-Kommentare kultivierten das Schönste am Sport: verehren zu können. Ja, er verehrte. Schöne Schwäche, anderen folgenlos verfallen zu dürfen. In anderen Bereichen der Gesellschaft kann das gefährlich sein. Im Sport nicht. Oertel wurde in dieser Schwäche zum legendär Stärksten der Branche. Er verfasste sein Berufsleben lang auch Kolumnen in der »Lausitzer Rundschau«, in der »Berliner Zeitung«, in der »BZ am Abend«. Er war der Kosmopolit im Kleinklein-Sozialismus. Der Unverklemmte in der allgemeinen Enge. Der den Berliner Neujahrslauf erfand und überhaupt ein beredter Anwalt des Breitensports war.

Naturgemäß polarisierten seine Vielseitigkeit, sein Drang zu Präsenz. Und der Plauderer war auch Propagandist, war Botschafter ersten Grades inmitten all der sportiven »Diplomaten im Trainingsanzug«. Nach dem Ende des Staates traf ihn die Erfahrung aller Zeitenwechsel: Es wollten plötzlich weit weniger gejubelt haben, als man eben noch ohrenbetäubend hörte. Und auch Oertels Name wurde skandiert in den anschwellenden Sündenbocksgesängen. Er hat sich nicht hinreißen lassen zu Bitternis. Aber die Bücher, die er schrieb, wurden – in gleichbleibend leichter Art – grundsätzlicher: »Gott sei Dank. Schluss mit der Schwatzgesellschaft«, »Wenn man aufsteht, wird die Verbeugung tiefer«.

An Oertel zu denken heißt: an Freundlichkeit denken. Kein schlechtes Omen in einer unguten Zeit, denn: Unter Apokalypse tut es heute keiner mehr. Wir sind abonniert auf den großen Knall. Das schaffen wir, wir alle helfen ja mit. Die Gesichter proben bei jeder Gelegenheit schon mal Härte und Unberührbarkeit. Dass der Mensch Trost nötig hat, macht ihn arm; dass er kaum Trost geben kann, macht ihn ungehalten. Aber: Dass uns ein Bedürfnis nach Trost immer wieder nachwächst, das lässt doch Glanz flackern. Und der Sport war, ist, bleibt so ein Glanz, so ein Trost – weil er Trotz ist. Ein Trotz der Freude darüber, dass Laufbahn und Verfolgungsrennen und Endkampf und Schuss ganz friedliche Worte sind. Sport ist also auch Sprachrettung. Es war Oertels Feld, auf dem er unverblümt durch die Blume sprach. Auch Stilblüten können leuchten.

Er ruhte – unruhig bis zum Äußersten – ganz im Selbstbewusstsein des außergewöhnlichen Charakters. »Man möchte sich an den Zeiger der Geschichte hängen, um die Uhren anzuhalten!« So ein weiterer Cierpinski-Jubelruf von Oertel. Die Zeiger der Uhren lassen sich von keinem Lebens-Lauf überholen, bremsen, aufhalten gar. Aber Erinnerung feiert beseelende Siege, und Sekunden können eine Ewigkeit begründen. Die der unvergesslichen Erzählung. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist Heinz Florian Oertel am 27. März im Alter von 95 Jahren gestorben.

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