25 Jahre Viagra-Zulassung: Mann, sei stark!

Vor einem Vierteljahrhundert wurde das Potenzmittel Viagra zugelassen – eine bis heute umstrittene pharmazeutische Sensation

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 6 Min.
Das »beste Stück« als Inbegriff der Männlichkeit? Diese tradierte Vorstellung ist nicht erst problematisch, wenn Erektionsstörungen auftreten.
Das »beste Stück« als Inbegriff der Männlichkeit? Diese tradierte Vorstellung ist nicht erst problematisch, wenn Erektionsstörungen auftreten.

Die Entdeckung des »revolutionären« Potenzmittels beruhte auf einem Zufall. Die Forschungsabteilung des US-Pharmakonzerns Pfizer suchte Mitte der 1990er Jahre ein wirksameres Mittel gegen Bluthochdruck, das die Herzkranzgefäße erweitern sollte. Bald aber erwiesen sich die bei den Testreihen auftretenden Nebenwirkungen des Inhaltsstoffs Sildenafil als erheblich spektakulärer: Die Penisse der männlichen Versuchspersonen schwollen an. Das war nicht nur ein Kuriosum aus wissenschaftlicher Perspektive, sondern vor allem in ökonomischer Hinsicht lukrativ. Im Frühjahr 1998 ließ die Food and Drug Administration, die amerikanische Arzneimittelbehörde, das Präparat Viagra zu. Ab September war die euphorisch als »blauer Diamant« gefeierte Pille dann auch in deutschen Apotheken erhältlich.

Der Name Viagra ist ein Kunstbegriff, angeblich setzt er sich zusammen aus Vigor, lateinisch für Kraft, und Niagara, den mächtigen nordamerikanischen Wasserfällen. Nach anderer Lesart leitet sich der Name vom indischen Wort für Tiger ab. Der Hauptinhaltsstoff Sildenafil ist eine gefäßerweiternde Substanz, der Schwellkörper des männlichen Sexualorgans wird besser durchblutet. So beliebt das Präparat seitdem auch war, es ist nicht unumstritten: Seit 25 Jahren wird auch über Nebenwirkungen von Viagra, eine bloße Symptombekämpfung tieferliegender Leiden sowie problematische Männerbilder und Leitsungsimperative gesprochen.

Erfolg mit Nebenwirkungen

Kurz nach der Markteinführung kostete eine einzige Potenztablette stolze 15 Euro. Pfizer verbuchte mit dem neuen Produkt in den Folgejahren Umsätze in Milliardenhöhe, das Unternehmen machte weltweit riesige Gewinne. Der brasilianische Fußballstar Pelé, Playboy-Gründer Hugh Hefner und der einstige US-amerikanische Präsidentschaftskandidat Bob Dole warben vor 25 Jahren für das neue Medikament. Die Substanz, die gegen die im Fachjargon als »erektile Dysfunktion« bezeichnete Störung helfen sollte, entwickelte sich zu einer global verbreiteten Marke. Viagra wurde schnell fast genauso bekannt wie Coca-Cola, Produkt und Markenname waren zeitweise nahezu identisch.

Doch 2013 lief der Patentschutz in Europa aus, bald darauf auch in Asien und den Vereinigten Staaten. Längst sind deutlich billigere Medikamente erhältlich, sogenannte Generika mit teilweise anderer Zusammensetzung, aber mit ähnlicher Wirkung. Besonders preisgünstig sind Potenzmittel im Internet, vor allem auf Pornoseiten werden sie intensiv beworben. Medizinische wie pharmakologische Fachleute warnen jedoch vor Onlinebestellungen: Die im Netz angebotenen Tabletten seien teilweise nicht ausreichend getestet, manchmal auch zu hoch dosiert oder gar verunreinigt.

Hierzulande war Viagra von Beginn an verschreibungspflichtig, also nur nach ärztlicher Beratung und auf Rezept in Apotheken zu bekommen. Diese Regelung abzuschaffen und den Vertrieb wie etwa in Großbritannien komplett freizugeben, lehnte der deutsche Sachverständigenausschuss für Arzneimittel und Medizinprodukte im Januar 2022 ab – aus triftigen Gründen. Denn ganz ungefährlich ist die Einnahme nicht, manche Nutzer klagen über Nebenwirkungen: Der Blutdruck sinkt, das Herz pumpt mehr. »Ich habe rote Bäckchen bekommen, die Nase hat sich dick angefühlt, ich konnte schlechter atmen«, berichtet ein Viagra-Konsument, der nicht namentlich genannt werden möchte.

Männerperformance

Trotz solcher Komplikationen entschieden sich vor allem ältere Männer für das Versprechen sexueller Leistungssteigerung. Die Angst vor dem Verlust der Fähigkeit zur Penetration wich einem neuen Selbstbewusstsein, das zusätzlich befördert wurde durch den vom Marketing verbreiteten Mythos einer nie erlahmenden sexuellen Kraft. Historisch betrachtet sind Potenzmittel und die ihnen zugeschriebenen Wunderwirkungen allerdings nichts Neues. Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte haben Männer auf Aphrodisiaka gesetzt, um ihren Sexualtrieb anzuregen. Die Versuche zum Beispiel mit Moschus, Alraune, Ginseng oder gar mit Nashornpulver waren selten von Erfolg gekrönt. Mit Viagra, so die Hoffnung, schien sich das erstmals grundlegend zu ändern.

Im besten Fall können Potenzmittel verunsicherten Männern eine Stütze beziehungsweise Zuversicht bieten, den gesellschaftlichen Leistungsanforderungen an »den Mann« zu genügen. Die Medikamente führen zu stärkeren und längeren Erektionen, auch die Erholungszeiten nach dem Höhepunkt sind kürzer. Vor allem in der Partyszene entstand deswegen zeitweise ein Hype. Viagra zu nehmen wurde zu einer Art Doping, diente als zusätzliches Instrument der Selbstoptimierung. Die modische Lifestyle-Droge konsumierten auch und gerade junge Männer, die eigentlich gar keine Probleme beim Sex hatten.

Symptome behandeln reicht nicht

Nach traditionellen Geschlechterstereotypen sollen Männer immer stark sein, sie müssen funktionieren. Sexuelle Schwierigkeiten passen nicht in dieses Identitätskonzept. Nicht wenige betrachten ihren Körper als eine Art Maschine, um die man sich nur dann kümmern muss, wenn sie überhaupt nicht mehr läuft. Viele Männer vernachlässigen ihre Gesundheit, missachten selbst eindeutige Warnsignale oder vermeiden Vorsorgeuntersuchungen. Allerdings gibt es in der Prävention zum Teil auch erschwerte Zugänge. Und selbstverständlich übernimmt auch keine Versicherung die Kosten für Potenzmittel wie Viagra.

Erektionsprobleme sind nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu. Den betroffenen Männern sind ihre Schwierigkeiten oft peinlich, sie reden darüber nicht einmal mit engen Bezugspersonen. Stattdessen werden heimlich potenzfördernde Mittel gekauft und geschluckt, oft ohne jede medizinische Beratung. Dieser rein pharmakologische Zugang war wissenschaftlich stets umstritten. Wichtiger als die Einnahme von Medikamenten sei die Auseinandersetzung mit den eigenen psychischen Schwierigkeiten, kritisieren vor allem Sexualtherapeut*innen.

Frank Sommer, Medizinprofessor an der Universität Hamburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit, führt Potenzprobleme dagegen vorwiegend auf körperliche Symptome zurück. Neunzig Prozent der Fälle seien »primär organisch bedingt«. Gefäße, Nerven oder Hormone nennt er als mögliche Ursachen für Veränderungen in der Struktur des Penis: »Das ruft eine Erektionsstörung hervor, was dann wiederum dazu führt, dass der Mann sich nicht gut fühlt und sich eine mentale Komponente obendrauf setzt.« Sommer möchte allerdings nicht missverstanden werden: Neben körperlichen spielen für ihn psychische Aspekte durchaus eine Rolle, es handele sich um eine Wechselwirkung.

In dieser Kontroverse drückt sich auch die Rivalität unter den heilenden Professionen aus. Während die Medizin auf physiologische Befunde wie verengte Blutgefäße verweist, betont die Psychologie die vorrangige Rolle der Seele. Zum Wesen der Sexualität gehöre ihre Unkalkulierbarkeit, kein Mann könne die körperlichen Anzeichen von Erregung willkürlich hervorrufen. Die Fähigkeit zum erigierten Glied, das »die Männerkulturen mit phallischen Symbolen wie Obelisken feiern«, sei eine »ziemlich komplexe psychosomatische Reaktion«, schreibt der Hamburger Sexualtherapeut Josef Aldenhoff in seinem Buch »Mensch Mann. Was ist los in Männerseelen?«. Viagra habe »eine gut benennbare Wirkung, dass die Erektion zustande kommt und gehalten werden kann«, ergänzt sein Kölner Kollege Gerd Kräling: »Sie kriegen aber keine Erektion, wenn Sie nicht irgendeine Erregung haben.« Häufig gehe es eben nicht um eine organische Problematik, in urologischen Untersuchungen werde das »oft übersehen«. Daher können auch stimulierende Tabletten psychische Gesundheit, Lustgefühle, Anziehung und Nähe zum erotischen Gegenüber nicht ersetzen – und erst recht nicht die dahinter stehenden, oft unbewussten und tief reichenden inneren Konflikte lösen.

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