Abgehängtes Lettland

Die Inflationskrise und die fiskalischen Gegenmaßnahmen vertiefen die Kluft zwischen den EU-Staaten

Für Menschen mit allergeringsten Einkommen sind die zur Verfügung stehenden Mittel sehr, sehr dürftig», sagt Ineta Rezevska. «Tatsächlich muss man sich wundern, wie sie mit solchen Beträgen überleben können.» Rezevska ist Mitarbeiterin des staatlichen Beauftragten für Bürgerrechte in Lettland, der im vergangenen Jahr vor dem Verfassungsgericht eine Anhebung der Sozialleistungen erstritt. Doch diese sei angesichts der hohen Inflation nicht ausreichend: Derzeit benötigten Verbraucher in dem kleinen baltischen Land im Schnitt 188 Euro monatlich für Lebensmittel, das staatlich gezahlte Minimaleinkommen etwa für Menschen mit Behinderungen liegt bei 150 Euro.

Bekanntlich leiden Haushalte mit niedrigen Einkommen am stärksten unter der seit Monaten hohen Inflation. Laut der Europäischen Zentralbank (EZB) kommt EU-weit das Fünftel mit den geringsten Einkommen auf eine um 1,9 Prozent höhere Teuerungsrate als die obersten 20 Prozent. Das liegt daran, dass die seit Sommer 2021 und besonders nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine in die Höhe geschossene Teuerung von zwei Produktgruppen getrieben wird, die im Warenkorb von Geringverdienern eine weit größere Rolle spielen als bei Gutverdienern: Energie und Kraftstoffe sowie Lebensmittel. Die Energiepreise fallen zwar mittlerweile, und die Teuerung insgesamt verlangsamt sich nach ihrem Hoch im Oktober. Hauptinflationstreiber sind aber aktuell die Lebensmittel.

Der Zusammenhang zwischen niedrigen Einkommen und höheren Inflationsraten gilt indes auch zwischen den Staaten: Die Teuerung ist dort tendenziell höher, wo nicht nur die Abhängigkeit von Importen hoch ist, sondern auch, wo die Pro-Kopf-Einkommen niedrig sind und Energie- und Lebensmittelimporte daher eine größere Rolle spielen. Das gilt für elf der 13 EU-Länder, die im Gesamtjahr 2022 zweistellige Inflationsraten aufwiesen, darunter Griechenland, Kroatien und die baltischen Staaten. Zuletzt stellten sogar ausschließlich Länder aus Osteuropa die Top Ten. Dabei hat sich der Unterschied bei den Inflationsraten noch erhöht: Während sie im Gesamtjahr 2022 zwischen 5,8 Prozent in Frankreich und 19,3 Prozent in Estland lagen, brachten es im März 2023 Luxemburg und Spanien auf etwa drei Prozent, das Nicht-Euro-Land Ungarn hingegen erreichte über 25 Prozent.

Dass die Teuerungsrate in Ungarn besonders hoch ist, hat spezielle Gründe: Das eine ist die Schwäche der Landeswährung Forint. Aber Kritiker werfen der ultrarechten Fidesz-Regierung auch vor, mit Antiinflationsmaßnahmen die Teuerung noch zu befeuern. Die Deckelung der Einzelhandelspreise von acht Grundnahrungsmitteln und die Extrasteuer für Lebensmittelketten habe diese bewogen, bei anderen Produkten über die Maßen preislich zuzulangen.

Eher ein Normalfall ist Lettland – aktuell die Nummer eins im Euroraum und in manchen Monaten mit Teuerungsraten von mehr als 20 Prozent auf Jahressicht. «Die Hälfte aller Haushalte verdient zu wenig, um unerwartete finanzielle Schwierigkeiten überwinden zu können», beschreibt der Ökonom Andris Šuvajevs in einer Analyse für die Friedrich-Ebert-Stiftung die Dramatik der Lage. Die Regierung reagierte mit verschiedenen Maßnahmen: kleinere Monatszahlungen für besonders vulnerable Haushalte, Anhebung des Mindestlohns und der Minimaleinkommen (Sozialhilfe), Deckelung von Strom- und Heizpreisen, Hilfen für kleine Unternehmen. Dies war viel zu wenig vor allem für Menschen mit niedrigen Einkommen – die Inflationsrate lag im untersten Fünftel zeitweilig sogar um acht Prozentpunkte höher als bei den Topverdienern. Auch die Tarifpolitik konnte angesichts schwacher Gewerkschaften und eines nur zehnprozentigen Organisationsgrads die Lage nicht entschärfen. Da aber der private Konsum in einem Nichtindustriestaat wie Lettland eine besonders wichtige volkswirtschaftliche Funktion innehat, geht nicht nur Šuvajevs davon aus, dass es zu einer Rezession, steigender Arbeitslosigkeit und Armut sowie einer weiteren Vertiefung der sozialen Kluft im Land kommen wird.

Und der Abstand zu den wirtschaftsstarken EU-Ländern wächst wieder. Insgesamt hat der lettische Staat bisher 1,1 Milliarden Euro oder 3,4 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Abfederungsmaßnahmen bereitgestellt, wie aus einer Analyse des Brüsseler Thinktanks Bruegel hervorgeht. Zwar sind diese EU-weit überall ähnlich – meist wurden fossile Energien subventioniert, wobei die Mittel nur zu etwa einem Drittel an vulnerable Gruppen gingen –, doch die Dimensionen gehen weit auseinander: Unangefochtener Spitzenreiter ist Deutschland, das es mit seinem Doppelwumms auf 265 Milliarden Euro bringt, was 7,4 Prozent seines jährlichen BIPs entspricht. Zwei Drittel aller Maßnahmen entfielen auf nur drei Länder: Deutschland, Frankreich und Italien. Eigentlich bräuchte es in Niedriglohnländern überproportional hohe Ausgaben.

Linke Ökonomen kritisieren die «nicht koordinierte, nationalistische Fiskalpolitik». Im Unterschied zur Coronakrise, als nach langem Zögern doch ein EU-Konjunkturpaket im Umfang von 750 Milliarden Euro aufgelegt worden sei, gebe es jetzt keine gemeinschaftlich finanzierte Reaktion, heißt es im kürzlich vorgestellten «Euromemorandum 2023». «Dies wird die wirtschaftliche Polarisierung und die sozialen Spannungen sowohl innerhalb dieser Länder als auch in der EU im Allgemeinen verstärken.» Notwendig wäre aus Sicht der linken Ökonomen ein großes sozial-ökologisches EU-Investitionsprogramm. Damit ließe sich die Energiewende vorantreiben, was zu niedrigeren Preisen führen würde, aus der Krise herauswachsen und die Stärkung der sozialen Dienste wie Gesundheit und Bildung finanzieren.

Die Kluft zwischen den Staaten vergrößern könnte neben den fiskalischen Reaktionen auch die Geldpolitik: Gemäß den EU-Regeln ist die EZB für die Inflationsbekämpfung im Euroraum zuständig, doch gegen importierte Inflation kann sie wenig ausrichten. Und so haben die Leitzinserhöhungen der vergangenen Monate vor allem dazu geführt, dass die Anleiherenditen ärmerer Staaten in Süd- und Osteuropa deutlich anstiegen. Das dürfte sich noch verstärken, wenn die EZB auch den Ankauf von Staatsanleihen weiter einschränkt. Als Folge wären ausgerechnet die Staaten, die am stärksten staatlich intervenieren müssen, finanziell dazu nicht mehr in der Lage.

Es gibt auch die andere Seite der Medaille: Luxemburg, das EU-Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen, wies die ganze Zeit relativ niedrige Inflationsraten auf. Und ein Land vor den Toren der EU hat bisher fast nichts von einer Inflationskrise mitbekommen: Im Hochlohnland Schweiz lagen die monatlichen Inflationsraten bei 2,5 bis 3,5 Prozent. Der starke Franken wirkt einer importierten Inflation genauso entgegen wie protektionistische Maßnahmen im Agrarbereich, die die einheimische Produktion fördern. Außerdem ist man weniger abhängig von Energieeinfuhren. Und dann ist da noch die Statistik: Energie und Lebensmittel haben im Warenkorb, der zur Inflationsberechnung zugrunde gelegt wird, einen geringeren Anteil als anderswo.

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