Prozess Dilan S.: Gericht fehlt es an Bewusstsein für Rassismus

Urteil zum Angriff auf Dilan S. wird nächste Woche erwartet. Eine Rückschau auf den bisherigen Prozess

  • Özge Sarp
  • Lesedauer: 8 Min.

Einen Tag nach der Gedenkkundgebung »Zwei Jahre Hanau« sprach ich am 20. Februar des vergangenen Jahres auf einer Solidaritätskundgebung unter dem Motto »Schaut nicht weg! Solidarität mit Dilan und allen Betroffenen rassistischer Gewalt!«. Es war ein Wochenende in Berlin mit lautstarken und entsetzten Stimmen gegen rassistische Gewalt in Deutschland. Dilan S. lernte ich dort persönlich kennen. Ihre Kraft, Aufregung, Trauer und Angst waren sehr präsent. Sie hielt an eben jenem Ort eine Rede, an dem sie etwa zwei Wochen zuvor angegriffen worden war.

Das Video von Dilan S., in dem sie aus dem Krankenhaus berichtete, wie sie am 5. Februar 2022 erst in der Tram M4 und dann an der Haltestelle Greifswalder Straße im Nordosten der Berliner Innenstadt im Ortsteil Prenzlauer Berg in der Anwesenheit zahlreicher Passant*innen von einer Gruppe von sechs Erwachsenen rassistisch angegriffen worden war, verbreitete sich in den sozialen Medien, empörte bundesweit und bewegte hunderte Menschen zu der Kundgebung.

Fast ein Jahr später, am 16. Januar 2023, begann das Gerichtsverfahren am Amtsgericht Tiergarten. Das Motto »Solidarität mit Dilan« verbindet, ohne an Bedeutung verloren zu haben, viele Menschen bis zum Gerichtssaal. Beklagt wurde nicht nur die Gewalt, sondern auch die Entsolidarisierung der Zivilgesellschaft und der Umgang von Polizei und Medien mit Opfern rassistischer Gewalt, die Dilan S. so zum zweiten Mal zum Opfer gemacht hatten.

Der Prozess wurde am 16. Januar vertagt, weil ein Angeklagter nicht erschienen war. Inzwischen fanden drei Verhandlungstage statt, am 3., 17. und 20. April, also am Donnerstag. Die Urteilsverkündung steht noch aus. An allen Prozesstagen kamen viele Unterstützer*innen zum Gericht, als wären sie ein öffentlicher Schutz für Dilan.

Ich habe viele Gerichtsprozesse zu rassistisch und rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten in Deutschland beobachtet, im Oberlandesgericht München, in einem Landgericht in Brandenburg oder in Amtsgerichten in Berlin. Ein Schweigen als Recht, aber auch als eine Strategie der Angeklagten ist dabei häufig zu sehen. Keinerlei Zeichen der Verlegenheit oder Reue. Dieses Verhalten zeigte sich in vielen Prozesstagen beispielsweise im NSU-Prozess in München und im Prozess zum Neukölln-Komplex in Berlin. Bis heute habe ich nur in wenigen Fällen gesehen, dass die rassistischen Täter*innen vor Gericht oder vor den Opfern beziehungsweise Nebenkläger*innen Reue gezeigt oder um Entschuldigung gebeten haben.

Der Prozess um den Angriff auf Dilan S. reiht sich in dieses Muster ein. Dilan S., ihre Familie und Freund*innen sowie zahlreiche Unterstützer*innen aus Politik, Zivilgesellschaft und Presse wurden mit diesem Bild konfrontiert: Die Angeklagten traten ohne Reue im Gerichtsgebäude und im Verhandlungssaal auf. Sie schweigen aber in diesem Verfahren nicht.

Der erste Verhandlungstag war lange und herausfordernd für Dilan S. und ihre Familie. Zuerst sagten alle Angeklagten, dann Dilan S. selbst und daraufhin drei Zeug*innen aus. Von der Anklagebank kam, in ihrer ganzen Einfachheit, nur eine Täter-Opfer-Umkehrung. Dilan S. sei Aggressorin, habe sich provokant in der Sache verhalten und sei respektlos gegenüber älteren Menschen. Die Angeklagten hätten nur den Geburtstag einer der Angeklagten feiern wollen. Was darüber hinaus alles an diesem Abend geschehen sei, sei Dilans Beitrag gewesen.

Nur einen kleinen Bruchteil ihrer Taten gaben sie zu – das ist wahrscheinlich den Videos und Zeug*innenaussagen zu danken: Dilan an den Haaren gezogen und sie beleidigt zu haben. Rassisten oder Nazis seien sie nicht. Einige hätten sogar Freund*innen mit Migrationshintergrund, eine der Angeklagten habe selbst einen. Der Treffpunkt »Ariya Lounge«, der von der Hauptangeklagten betrieben wird, die Dilan S. rassistisch und sexistisch beleidigt und angegriffen hatte, habe mit ihrem rechtsextremen Ruf gar nichts zu tun. Nach Recherchen der »Taz« scheint die »Ariya Lounge« aber eine Stammkneipe für ein rechtes Publikum zu sein. Gesagt wurde dazu nichts.

Dilan S. erzählte vor Gericht von rassistischen und sexistischen Beleidigungen. Bevor sie diese aussprach, fragte sie bei der Richterin nach, ob sie diese wortwörtlich nennen dürfe. Auf die Frage der Richterin, woher die rassistischen Beleidigungen gekommen seien, antwortete Dilan S.: »Ich habe dafür keine Erklärung, weil es dafür keine Erklärung gibt.« Und ergänzte, wie es auf sie gewirkt habe: »Sie haben mit mir geredet, als hätte ich einen geringeren Wert.« Es fällt dem Gericht beziehungsweise der Richterin leider schwer zu erkennen, dass sich rassistische Gewalt als Ausdruck von Abwertung und von Machtverhältnissen zeigt.

So sagte die Richterin in einem weiteren Versuch zu Dilan S.: »Sie sehen aber nicht ausländisch aus.« Sie zeigte sich darüber derart verwundert, dass sie die Frage wiederholt stellte: Was könnte der Grund für rassistischen Beleidigungen sein? Dass eine Richterin einen Auslöser für eine rassistisch motivierte Gewalttat gegen eine auf den ersten Blick nicht »fremd« gelesenene Person herausfinden muss, um diese überhaupt zu erkennen, zeigt die Notwendigkeit, dass sich die Gerichte und Richter*innen immer wieder mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen müssen.

Am 3. und 17. April sagten insgesamt sieben Zeug*innen aus. Sie gaben an, dass die Täter*innen rassistische Äußerungen gemacht hätten. Als eine Zeugin auf die rassistische Äußerung »Geh dahin zurück, wo du herkommst« hinwies, hielt die Richterin dies für eine neutrale Aussage. »Damit könnte ja auch Ostfriesland gemeint sein«, sagte sie. Den darauffolgenden protestierenden Stimmen der Zuschauer*innen schenkte sie kein Verständnis.

Dieses Muster brach die Richterin bis zum wahrscheinlich vorletzten Prozesstag am Donnerstag nicht. Es ist die Annahme, es müsse einen Grund dafür geben, dass eine junge Frau rassistisch beleidigt werde, obwohl sie nicht ausländisch aussehe. Und die Verwunderung darüber, dass sich Dilan S. wehrte.

Dieses Muster hat mit dem gesellschaftlichen Rollenbild von »Frauen« und »jungen Mädchen« zu tun sowie mit weißen Privilegien. Es hat mit einer Erwartungshaltung zu tun, wie sich ein »migrantisches«, »junges« »Mädchen« benehmen soll. Ein Opfer wie Dilan S. passt nicht in dieses Muster: Sie als 17-jährige junge Frau hat für sich selbst gesprochen. Sie sagte über sich selbst, dass sie eine aus diesem Land sei. Und sie wehrte sich und filmte mit ihrem Handy, was ihr angetan wurde.

Wenn Opfer von diesem gesellschaftlichen Muster abweichen, dann gelten sie als Aggressoren, als provokant und, wie eine Zeugin in ihrer Aussage vor Gericht behauptete, als »streitlustig«. Diese Zeugin gab zwar zu, in der gefährlichen Situation wahrgenommen zu haben, dass es sich um Rassismus gehandelt habe. Und doch war sie nicht in der Lage, Dilan S. als Opfer zu sehen. »Weil sie das nicht hingenommen hat«, sagte sie. »An ihrer Stelle hätte ich mich mehr zurückgenommen in der Situation.« Das war eine Erklärung auf die Frage, warum einige der am Tatort Anwesenden nicht hätten einschreiten wollen, sondern nur zugesehen hätten.

Es ist nach wie vor ein Problem, dass grundsätzlich angenommen wird, Kinder und Jugendliche würden nicht in der Öffentlichkeit aus rassistischen Gründen von Erwachsenen oder älteren Menschen angegriffen. Das war zum Beispiel an der Fehleinschätzung einer Zeugin zu sehen: Eine junge Frau würde doch nicht von einer Gruppe von sechs Erwachsenen angegriffen werden. Wenn so etwas doch passieren sollte, dann kämen sicherlich andere zu Hilfe oder ließen einen solchen Angriff gar nicht erst geschehen, so dachte die Zeugin. Sie hatte in der Tram durchaus die Situation und die Gefahr wahrgenommen, aber sich dennoch zum Weiterfahren entschieden.

Die Zeug*innen hatten Angst, selbst angegriffen zu werden, und wagten es deshalb nicht, einzuschreiten. Nur zwei Zeugen kamen zu Hilfe beziehungsweise versuchten es, wurden aber von Täter*innen daran gehindert. Dieses Bild erklärt einiges. »Warum hat mir denn keiner geholfen?«, fragte Dilan S.

Am Donnerstag, dem vorletzten Verhandlungstag, wurden die Plädoyers gehalten. Dilan S. eilte von der Schule zum Gericht und nahm ihren Platz ein. Diesmal waren drei Angeklagte anwesend. Eine Verteidigerin kam zu spät und platzte mit einem Koffer mitten in der Verhandlung in den Saal. Die vorsitzende Richterin hielt es für in Ordnung, ohne vollständiges Erscheinen der Angeklagten weiter zu verhandeln.

Der Vertreter der Staatsanwaltschaft wertet dieses Fernbleiben in seinem Plädoyer als mangelndes Interesse der Angeklagten. Überhaupt verhält er sich angemessen gegenüber Dilan S. Er dreht sich öfter mal zu ihr hin, um ihr deutlich zu sagen: Du bist eine von hier. Das würdigt Dilan S. Und er spricht die Wichtigkeit des breiten öffentlichen Interesses innerhalb und außerhalb des Gerichtssaals an. Das soll sagen: Dilan S., du bist nicht allein.

Die Staatsanwaltschaft fordert Freiheitsstrafen und Geldstrafen für alle sechs Angeklagten – erschwerend wirkten rassistische Tatmotivation sowie Vorstrafen, darunter Tatbestände wie das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Körperverletzung und rassistische Beleidigung. Dass die Staatsanwaltschaft Dilan S. als Opfer von Rassismus anerkennt, hat die Geschädigte und alle Unterstützer*innen erleichtert und ihnen Hoffnung gemacht.

Auf der anderen Seite fordern die Angeklagten und ihre Anwälte Freispruch, beharren auf der Unschuld und beschuldigen sogar das Opfer mit harten Worten. Dass sie sich selbst im Recht sehen und dem Opfer die Schuld geben, ist ein beängstigendes Ergebnis dieses Verfahrens.

So fürchtet der Vater von Dilan S. zu Recht den Tag des Urteils, das voraussichtlich am 27. April verkündet wird. Es geht dabei nicht nur um die Sorge, dass die Täter*innen mit einer geringen oder schlimmstenfalls gar keiner Strafe davonkommen, sondern auch um die Frage: Wer schützt die nächsten Opfer, wenn die Täter*innen weitermachen?

Özge Sarp arbeitet als Opferberaterin bei Reach Out und beobachtet den Prozess zum Angriff auf Dilan S.

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