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Pflege: Zurechtkommen – aber wie?
Sebastian Schoepp stößt bei der Pflege seiner Eltern auf gesellschaftliche Kälte und Kriegstraumata
Als das Telefon klingelt, bereitet sich der Journalist Sebastian Schoepp gerade auf den Umzug nach Argentinien vor. Dort soll der Südamerikaspezialist künftig als Korrespondent für eine große deutsche Zeitung arbeiten, vielleicht der Höhepunkt seiner Karriere. Alles passt; er spricht die Landessprache, verfügt über Erfahrungen, hat eine spanische Freundin. Doch nachdem er den Hörer abgenommen hat, ändert sich in seinem Leben alles. Gefühlt im Minutentakt verschieben sich die Prioritäten. Provinz statt Übersee. Eltern statt Freundin. Pflege statt Freizeit.
Millionen Menschen in Deutschland kennen diese Situation, denn obgleich wir ständig über Pflegeheime, Personalengpässe und prekäre Zustände in der Betreuung von Alten und Kranken informiert werden, ändert sich in der Realität wenig. Eher werden die Probleme größer: Angehörige bleiben allein bei der Suche nach einer angemessenen Betreuung und in den Pflegeeinrichtungen wird das Personal immer knapper. Wo Politiker bei Strom- und Gassorgen Schnappatmung bekommen und in Windeseile Vorschläge präsentieren, hält sich angesichts der Alten und ihrer Nöte die gesellschaftliche Aufregung in Grenzen. Die meisten Pflegebedürftigen werden ohnehin zu Hause betreut. Von Töchtern, Enkeln, Ehepartnern, Nachbarn oder eben vom Sohn. Wie sie das schaffen, bleibt ihr Geheimnis.
Sebastian Schoepps betagte Mutter ist überraschend im Krankenhaus gelandet, muss noch in derselben Nacht operiert werden. Nur durch einen Zufall haben die Untersuchungen nach einem Sturz ein gefährliches Aneurysma zutage befördert. Und wie so oft kann der Vater seiner Frau gerade in diesem Moment nicht beistehen, denn er sitzt nach einer Augenoperation mit einem dicken Verband um den Kopf daheim im kleinen Reihenhäuschen und braucht selbst Hilfe. Jetzt wäre es praktisch, wenn es mehrere Söhne gäbe. Aber es gibt nur Sebastian. Sieh zu, wie du zurechtkommst, gibt ihm die wortkarge Mutter noch auf den Weg. Den Spruch kennt er, das Motto gilt nicht nur für sie, sondern vermutlich für eine ganze Generation.
Plötzlich ist der Autor dieses berührenden Berichtes vom Ende zweier Leben nicht mehr nur für sich selbst, sondern für zwei Alte in einer Ausnahmesituation verantwortlich, die ihm alles abverlangt, was man sich nur vorstellen kann: Zeit, Gefühl, Organisationstalent, Wendigkeit, Diplomatie. Andauernd ändert sich die Lage. Erst ist der Vater allein zu Haus und die Mutter im Krankenhaus, später ist es umgekehrt. Irgendwann leben beide in einem Apartment, wo es Pflegeleistungen für ihn gibt. Ehe es soweit ist, hat Schoepp allerdings einen unfreiwilligen Schnellkurs in Sachen Pflege hinter sich gebracht. Er lernt, dass manche Mitarbeiter von Beratungsstellen weniger wissen als er selbst, man Anerkennung von Pflegebedürftigkeit erkämpfen muss, Krankenkassen nicht automatisch die Verbündeten der Versicherten sind und Elternmeinungen nicht immer mit den eigenen deckungsgleich. Schoepp »bezahlt« für die vier Jahre, in denen er auf die jeweils aktuelle Herausforderung reagiert und dennoch wie im Hamsterrad immer wieder an der gleichen Stelle vorbeikommt, »mit dem Scheitern einer Beziehung und dem Verzicht auf berufliches Fortkommen«. Kein Angehöriger, so schreibt er, käme aus diesem Tunnel als derselbe heraus, als der er hineingegangen sei.
Doch dieses Buch wäre nicht so bemerkenswert, wenn der Autor nur die Betreuungsgeschichte seiner Eltern niedergeschrieben hätte. Das haben schon einige vor ihm getan, und es sollen auch alle ermutigt werden, die es noch vorhaben. Jeder Erfahrungsbericht wie dieser hilft anderen Menschen »zurechtzukommen«, um den Spruch von Schoepps Mutter zu bemühen.
Aber dem Autor ging es nicht um ein Selbsthilfebuch. Er spürt der Generation der Kriegskinder und Kriegsenkel nach, will nicht nur von seinen Eltern wissen, wie ein Soldat nach den schrecklichen Greueln des Krieges weiterlebte, was er mit seiner Frau besprach, die ebenfalls nicht von Qualen verschont geblieben war, und was sie an ein Kind wie ihn weitergaben. Er selbst erfuhr wenig vom Vater über die Zeit auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges, wenig von der Mutter über das, was sie zu verarbeiten gehabt hatte. An einer Stelle schreibt er, die Vergangenheit habe die Eltern zu verschlossenen Menschen gemacht, obwohl sie praktisch unaufhörlich redeten. Um etwas über den Zustand dieser Generation herauszufinden, für die eine Art von kollektiver Sprachlosigkeit symptomatisch war, las Schoepp bei Miller, Mitscherlich, Bode, de Bruyn, Geiger, Genazino und Borasio nach, wie Traumata an die Kinder weitergegeben werden können. Er stieg tief ein in die Materie. Erst nach dem Tod des Vaters konnte er dessen Rote-Kreuz-Akten und alte Briefe studieren. Dabei geriet so manche Gewissheit über das Leben der Vorfahren erheblich ins Wanken. Und mitunter fragte sich der Sohn, ob er selbst seinen Anteil an der verbalen Verweigerung der Eltern hatte und damit die emotionale Distanz zwischen ihnen und ihm noch verstärkte.
Selten kommt ein Buch zu diesem Thema so berührend, einfühlsam und direkt daher, aber gleichzeitig so wenig larmoyant und denunziatorisch. Hier bekommt niemand eine Schuld zugewiesen, obgleich die Versuchung groß gewesen sein dürfte. Für künftige Auflagen – sie wären wünschenswert – bleibt nur der Wunsch nach korrekter Schreibweise der polnischen Orte Miedzyzdroje (Misdroy) und Swinoujscie (Swinemünde) sowie nach dem Verzicht auf das Wort »füttern«, wenn es sich um Menschen handelt. Dann ist alles perfekt.
Sebastian Schoepp: »Seht zu, wie ihr zurechtkommt«. Westend, 320 S., br., 14 €.
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