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Axel Honneth: Gescheiterter Rettungsversuch

Der Sozialphilosoph Axel Honneth beerbte die Kritische Theorie in der dritten Generation. Den Marxismus zu aktualisieren ging dabei tragisch daneben

  • Florian Geisler
  • Lesedauer: 13 Min.
Ein Gedankengebäude, das irgendwie nach Sozialismus aussieht? Tatsächlich hat Axel Honneth Marxismus zur Anerkennungsphilosophie und sozialistische Politik zur Sozialdemokratie umgedeutet.
Ein Gedankengebäude, das irgendwie nach Sozialismus aussieht? Tatsächlich hat Axel Honneth Marxismus zur Anerkennungsphilosophie und sozialistische Politik zur Sozialdemokratie umgedeutet.

Schon im 19. Jahrhundert ließ es sich ahnen: Die moderne Arbeitswelt mit ihren Fabriken, der hierarchischen Arbeitsteilung und schnell um sich greifenden sozialen Ungleichheit eignet sich nicht als gute Schule der Demokratie. Völlig ausgelaugte und praktisch entrechtete Proletarier*innen entwickeln kaum die Neigung, sich nach der Schicht dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments in bürgerlichen Diskussionsrunden hinzugegeben. Hält man solch demokratisches Miteinander aber für eine unabdingbare Säule des friedlichen Zusammenlebens, entsteht Handlungsbedarf: Wie kann die Lohnarbeit so gestaltet werden, dass sie politische Subjekte produziert, die am bürgerlichen Gemeinwesen mitwirken wollen?

Reihe »Populäre Theorie«
Destruktiver Kapitalismus, bedrohte Demokratie, Aufstieg der Rechten: Die Gesellschaft steckt in der Krise. Und was sagt die kritische Gesellschaftstheorie dazu? Die Reihe »Populäre Theorie« stellt aktuelle Positionen vor – so kritisch, wie diese selbst sein sollten. Alle Texte unter dasnd.de/poptheorie

Jüngst kam zu dieser sozialdemokratischen Grundfrage ein Vorschlag des Sozialphilosophen Axel Honneth, der sich mit seinem Buch »Der arbeitende Souverän« zu Wort meldete. Fünf Minimalkriterien für demokratische Reformen der Arbeitswelt werden darin ausgebreitet. Wer dabei große Überraschungen erwartet, wird enttäuscht sein. Die recht konventionellen Überlegungen lassen sich schnell zusammenfassen: Für demokratisches Handeln braucht der Mensch laut Honneth eine gewisse finanzielle Sicherheit und ausreichend Freizeit. Es bedürfe eines Gefühls der Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft und dafür müsse wiederum jede und jeder Einzelne eine gewisse Anerkennung aus der Mitte dieser Gesellschaft erfahren. Insbesondere abhängig Beschäftigte brauchten daher eigene Verhandlungsmacht und ganzheitliche Organisationsformen der Arbeit, die Kreativität und vor allem politische Gestaltungskraft auch tatsächlich im Alltag erfahrbar machten. Traditionelle Gewerkschaftskost, möchte man meinen – und könnte an dieser Stelle das Buch beiseite legen.

Aber Honneth ist nicht einfach Gewerkschaftsfunktionär, sondern Philosoph mit Anspruch auf eine gewisse Allgemeingültigkeit sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Als ehemaliger Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung war und ist er internationaler Ansprechpartner, wenn es um die kritische Gesellschaftstheorie der sogenannten Frankfurter Schule gehen soll. Seine Aktualisierung marxistisch inspirierter Sozialkritik beginnt bei der Philosophie der Aufklärung, geht durch die Geschichte des Marxismus und mündet in eine Idee des Sozialismus für die heutige Zeit, die er als öffentlicher Intellektueller in die Debatte um gesellschaftlichen Fortschritt einbringt.

Nimmt man den Anspruch und die öffentliche Erwartungshaltung ernst, so muss der Umstand verwundern, dass kein Programmvorschlag Honneths neu oder besonders radikal erscheint. Hat sein aktualisierter Sozialismus nicht mehr zu bieten als den verzweifelten Wunsch nach einem kleinen Bisschen mehr Teilhabe und Anerkennung von den maroden Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft? Honneths spärlicher Beitrag ist nicht nur eine Enttäuschung am Rande, er ist das Ergebnis einer konsequenten Theorieentwicklung: ein Rettungsversuch der Ideen des Marxismus und Sozialismus, der von beiden nichts mehr übrig ließ. Es lohnt sich, diesen Wandlungsprozess kritischer Theorie in den Blick zu nehmen und zu verstehen, warum ausgerechnet eine solche Form philosophischer Kompromissbildung so populär werden konnte.

Wie geht Aufklärung?

Axel Honneth wird der dritten Generation der Frankfurter Schule zugeordnet. Er wurde 1983 mit einer Arbeit zu Foucault und den »Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie« an der Freien Universität Berlin promoviert und ging bald darauf nach Frankfurt, wo er sich mit seinem »Kampf um Anerkennung« 1990 habilitierte. Wie die Arbeit des Philosophen Jürgen Habermas aus der zweiten Generation steht Honneths Werk für eine Verallgemeinerung marxistischer Fragestellungen und, wo nötig, ihrer Übersetzung in ein sozialwissenschaftliches Programm. Anstatt Marx’ Geist mithilfe großer Kampfbegriffe für ein Strohfeuer moralischer Empörung zu beschwören, ging es dieser neueren Frankfurter Schule um einen rationalen Blick auf die politischen Probleme der Zeit. Habermas etwa hatte früh auf die Grenzen der marxistischen Krisentheorien hingewiesen: Möge der Kapitalismus sich ökonomisch auch immer wieder dem Zusammenbruch nähern, folge doch auf einer politischen Ebene daraus keineswegs automatisch sein Ende.

Die Menschen seien auf so vielfältige Weise in ihre Lebensweise eingebunden, dass es nicht viel bewirke, bei jeder Krise gleich »Entfremdung, Ausbeutung, Klassenkampf!« zu rufen. Vielmehr müsse diese Eingebundenheit in ihrem historischen Wandel genau untersucht werden, ansonsten würden auch wohlmeinende emanzipatorische Initiativen immer wieder leicht in ihr Gegenteil kippen. Für ein funktionierendes sozialistisches Projekt brauche es daher eine theoretische Auffassung von Geschichte und Gesellschaft, deren Begriffe sich im besten Fall mit den Methoden der Sozialforschung begründen ließen – so zumindest die Idee.

Keine leichte Aufgabe

Honneths Rolle als Institutsdirektor in den Jahren 2001 bis 2018 bestand unter anderem darin, die zwei Seiten eines solchen Projekts – also empirische Forschung und philosophische Reflexion – zusammen auf die Höhe des 21. Jahrhunderts zu bringen. Das ist aus zwei Gründen keine leichte Aufgabe. Wer einen Sozialismus will, der nicht autoritär funktioniert wie eine Religion, sondern demokratisch und transparent, der muss einerseits auch seine Grundbegriffe deutlich und ohne doppelten Boden formulieren. Eine solche Klarheit lässt sich aber auch bei bestem Willen nur schwer herstellen: »Die« Logik der modernen Gesellschaft oder »den« Kapitalismus und seine Geschichte von A bis Z ausbuchstabieren zu wollen, ist in vielerlei Hinsicht ein Ding der Unmöglichkeit. Entsprechende Versuche kippen oft in den Reduktionismus des Hauptwiderspruchsdenkens, verlieren sich in magisch-dialektischen Begriffsbeschwörungen oder bleiben aus falsch verstandener Forschungsethik gleich auf einer bloßen Beschreibungsebene.

Honneth, könnte man sagen, hat sich der Anziehungskraft dieser einfachen Lösungen stets entzogen, was sich an vielen seiner Grundbegriffe ablesen lässt. Die Theorie der Anerkennung etwa, ein zentrales Element in Honneths Arbeit, reagiert auf den Umstand, dass sich politischer Fortschritt eben nicht nur als Nebenfolge eines technisch-industriellen Prozesses ergibt. Die sozialen Verhältnisse, in denen die Menschen stehen, lassen sich nicht in allen Fällen auf ein ökonomisches Verhältnis reduzieren. Sie ergeben sich aus den verschiedenen Momenten, in denen sich Menschen in Alltag und Gesellschaft als politische Subjekte begegnen. Die Art und Weise, wie sie sich in solchen Begegnungen als gleich oder ungleich anerkennen, ist also kein trivialer Nebenschauplatz, so Honneths Einsicht. Darin liege vielmehr eine zentrale Möglichkeit für die Gestaltung des Sozialen.

Mit der Bemühung um Klarheit hängt andererseits das Problem zusammen, dass Großtheorien generell einen schweren Stand haben. Gerade in der Soziologie – die sich ursprünglich ja genau den Gesellschaftsfragen widmete – hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass man von allem Gesellschaftlichem, das nicht in wenigen Zügen genau zu definieren und anhand von Daten zu untersuchen sei, schweigen müsse. Das Interesse der Universitäten an gehaltvoller Gesellschaftstheorie ist heute unvergleichlich kleiner als etwa vor 100 Jahren oder unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt, weil sich derartige gesellschaftliche Grundlagenforschung kaum vermarkten lässt.

Theoriearbeit ist von Geldern abhängig, die auf Grundlage von Gütekriterien vergeben werden, die eigentlich nur »schlanke« empirische Studien erfüllen können. Zu solchem Forschungsdesign gehört, dass die wirklich interessanten Fragen außen vor bleiben. Wer etwa wissen will, dass ab einem Jahreseinkommen von 75 000 Euro das individuelle Wohlbefinden nicht mehr steigt, kann das in materialreichen Studien nachlesen. Wer dagegen wissen will, was zu tun wäre, um einer Mehrheit der Bevölkerung ein solches Gehalt auch nur ansatzweise zu ermöglichen, schaut in die Röhre – das ist angeblich keine wissenschaftliche Fragestellung. Für eine kritische Sozialforschung führt kaum ein Weg daran vorbei, sich in diesem Vermittlungsprozess zwischen kleinteiligen Daten und großer Theorie die Finger schmutzig zu machen.

Wenigstens die Idee retten

Es liegt auf der Hand, dass unter solchen Bedingungen von Sozialforschung im Handgemenge der ein oder andere Inhalt über Bord geht. Wohlwollend kann man Honneths Position daher als einen Rettungsversuch des Marxismus betrachten: Eine Rationalisierung marxistischer Analyse und die verallgemeinerte Reformulierung dessen, was Honneth für die Grundwerte des Sozialismus hält, soll deren Aktualität im 21. Jahrhundert fortschreiben. Genau damit stößt Honneth allerdings an die Grenzen seines Gegenstands.

So kritisierte er etwa in seinem 2017 veröffentlichten Band »Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung« jene Erblasten des Marxismus, die seiner Ansicht nach in drei Punkten problematische politische Konsequenzen zeitigten: Erstens habe ein sozialistisches Projekt den Eigensinn politischer Sphären unterschätzt. Deren Struktur ergebe sich eben nicht immer aus der Ökonomie, wie etwa der Wandel von Familienbeziehungen und das Entstehen der modernen Rechtssysteme zeige. Zweitens sei der junge Sozialismus so sehr von der neuen gesellschaftlichen Kraft der Industrie geblendet gewesen, dass er sich nur schwer ein anderes Subjekt der Geschichte als die Arbeiter*innenklasse habe vorstellen können. Und drittens gebe es heute keine Grundlage mehr für die Hoffnung auf einen mehr oder weniger automatischen Wandel der Gesellschaft, der unweigerlich zu einem Fortschritt führen würde, wie es sich Sozialist*innen oftmals vorgestellt hätten.

Um diese Probleme zu umgehen, schlägt Honneth vor, sich wieder auf den seiner Meinung nach eigentlichen Kern des sozialistischen Projekts zu besinnen, das Konzept der »sozialen Freiheit«. Diese fuße nicht nur auf ökonomischem Ausgleich, sondern auf umfassender gegenseitiger Anerkennung. Aus dieser Perspektive ergibt sich für Honneth scheinbar eine elegante Reformulierung der genannten Problemfelder. Einerseits eignet sich Anerkennung als sinnvolle Forderung in allen Bereichen, die nicht direkt ökonomisiert sind, wie etwa unbezahlten Hausarbeit. Andererseits muss ein internationalistisches Projekt offensichtlich Anerkennung für alle möglichen Lebensformen, Kulturen und Menschen gleich welcher Herkunft verlangen, auch wenn sich das nicht aus dem unmittelbaren Klasseninteresse der lokalen Arbeiter*innen ergibt.

Ökonomische Gerechtigkeit und soziale Gleichheit erscheinen in dieser Konzeption zwar nur noch als Sonderformen der Anerkennung – aber eben auch nicht weniger. Denn eine Politik der Anerkennung setzt sowohl voraus, dass allen Menschen genügend finanzielle Mittel bereitstehen, um an der Gesellschaft teilzuhaben. Und andererseits darf sich Anerkennung nicht nur symbolisch bemerkbar machen, sondern muss sich auch ökonomisch auszahlen – etwa wenn man den wichtigen Beitrag schlecht bezahlter Pflegekräfte endlich anerkennt.

Im internationalen Dialog wie mit der US-amerikanischen Feministin Nancy Fraser oder dem französischen Philosophen Jacques Rancière macht Honneth diese Position immer wieder stark, wenn es um die richtige Verbindung von Umverteilungspolitik und Anerkennung geht – ein Streit, der auch die deutsche Linke zwischen Identitäts- und Klassenpolitik tief spaltet. Denn tatsächlich hat es die Regierungsstrategie des Neoliberalismus geschafft, Kämpfe um Anerkennung oder ökonomische Umstrukturierung gegeneinander auszuspielen. Auf der einen Seite demonstriert die Ampel-Regierung mit SPD und Grünen, wie groß der Gestaltungsspielraum für Anerkennung ist, solange das Recht auf privaten Profit nicht angetastet wird. Auf der anderen Seite polarisiert etwa Sarah Wagenknecht mit der Forderung, es müsse Schluss sein mit der selbstgerechten Politik einer zuvorderst werteorientierten Schicht. In der Suche nach der richtigen Vermittlung von Klassen- und Identitätspolitik geht es dem Anschein nach also wirklich ums Ganze.

Ganz abstrakt ums Ganze

Auch wenn Honneth sicherlich kein Impulsgeber einer (radikalen) Linken ist, mischt seine Position in dieser entscheidenden Großdebatte mit. Denn so wie Honneth es vorgemacht hat, kommen die verschiedenen Versuche, Marx für die heutige Zeit fit zu machen, stets zum Preis einer erheblichen Verkürzung des Marxschen Anspruchs. Wenn dieser etwa in gegenwärtigen Positionen einer Rückkehr zur Klassenpolitik eben nur noch als Klassentheoretiker aufgefasst wird, gerät das Wichtigste an seinem Werk zum Lippenbekenntnis oder geht ganz verloren: die Kritik am Prozess der bürgerlichen Gesellschaft als Gesamtkonstrukt. In einem solchen Reduktionismus stimmen ganz unterschiedliche Positionen heute wieder überein – auch diejenige von Honneth, für den der Marxismus eine spezielle, eben ökonomisch reduktionistische, Sozialtheorie unter anderen war.

Der reduzierten Darstellung des Marxismus kann dann auch der Hut aufgesetzt werden, Klassenkampf sei im Kern nur ein Spezialfall eines menschlichen Ringens um Anerkennung. So kann Honneth Marx in die Tradition der demokratischen Aufklärer einreihen und der Sozialismus wird zu einer Frühform dessen, was die freiheitlich-demokratische Grundordnung ja ohnehin bereits im Kern beinhalte. Alles wird zu verschiedenen Durchgangsstufen eines übergeordneten Ideals gemacht. Was an Marx dann zu retten wäre, ist also, dass er doch auch nur die Demokratie wollte. Durch eine solche Rettung verliert der Marxismus gerade das, was ihn ausmacht, nämlich die kritische, methodische Distanz zur realen Geschichte dieser Form von Philosophie und Staatenbildung. Marx ist eben nicht Rousseau – er kann und sollte es auch nicht werden.

Wollen nicht alle nur Demokratie?

Aber nicht nur in der Theorie, sondern auch mit Blick auf aktuelle Kämpfe ließe sich über Honneths Perspektive auf Arbeitskampf und demokratische Teilhabe trefflich streiten. »Je eintöniger, intellektuell anspruchsloser und repetitiver die Arbeit ist, die eine Person zu verrichten hat, desto eingeschränkter ist ihre Fähigkeit, aus eigener Kraft Initiativen zur Veränderung ihrer Lebenslage und ihrer gesellschaftlichen Umwelt zu ergreifen«, argumentiert Honneth in »Der arbeitende Souverän«. Als Beleg führt er den modernen, von Algorithmen gesteuerten Akkordzwang an, der seiner Ansicht nach zu Politikverdrossenheit führen muss, da nach Feierabend keine Zeit und Muße für demokratisches Handeln übrigbleiben. Mit Blick auf die äußerst aktiven Streikbewegungen in prekären Arbeitsfeldern – also prominent etwa bei Amazon, in Krankenhäusern, bei der Post oder sonstigen Lieferdiensten – scheint sich dieses Bild keineswegs zu bestätigen. Im Gegenteil sind es oft gerade die in politischer Hinsicht am stärksten Prekarisierten, die gegenwärtig zu den lautesten progressiven Stimmen gehören.

Honneths Problemdiagnose geht damit auf merkwürdige Weise an der gegenwärtigen Realität vorbei. Das liegt auch daran, dass die hochgehaltenen demokratischen Verfahren in seiner Darstellung ihre problematische und umkämpfte Bedeutung verloren haben – sie sind schlicht das Ziel, das es zu erreichen gilt. Das wird der realen Geschichte der Durchsetzung von Demokratien keinesfalls gerecht. Diese waren niemals nur progressive Programme, sondern ebenso häufig Projekte zur Absicherung von sozialer Hegemonie gegen progressive Kämpfe, die in vielen Fällen eben gerade von Arbeitenden geführt wurden. Insofern Honneth den zwiespältigen Gehalt demokratischer Verfahren unterschätzt, entpuppt sich sein einseitiges Faible für jene an guter Arbeit und gutem Leben für alle interessierten Werte bei genauerer Betrachtung als ganz und gar konservative Kaffeehauskultur des Demokratischen: Sozial abgesicherte Bürger sollen sich wechselseitig ihre Wertschätzung versichern und sich an der öffentlichen Willensbildung beteiligen.

Revolution abgesagt

Honneth vollzieht auf der Theorieebene jene Entwicklung, mit der sozialistische Politik zur Sozialdemokratie übergeht: Indem alle Reflexion auf die gesellschaftlichen Grundlagen der gegenseitigen Entfremdung ausgeklammert werden, bleibt der Appell für mehr Gerechtigkeit und Gleichheit in den bestehenden Verhältnissen. Aber man stelle sich nur einmal vor, welche Bedingungen erfüllt sein müssten, damit etwa die Eigentümer*innen eines Hauses und dessen Bewohner*innen sich in einer gleichberechtigten Anerkennungsordnung begegnen könnten. Wie hoch müsste die finanzielle Sicherheit einer Mietpartei sein, um das Gewicht einer Eigentumsgesellschaft aufzuwiegen? Wie gefüllt müsste, dasselbe Argument weitergedacht, eine Streikkasse sein, um Arbeitgeber wirklich zu einer solidarischen Lohnpolitik zu drängen?

Kurzum: Eine Arbeiter*innenklasse, deren gleiche Teilhabe an der Souveränität wirklich anerkannt würde, stünde nicht mehr in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen. Die eigentliche Anerkennung wäre die Aufhebung der Klassen. Honneth aber schummelt den Kompromiss ein, dass jede Anerkennung auch schon ein Stück Aufhebung der schlechten Verhältnisse wäre. Dass demokratische Wertegemeinschaften aber keineswegs automatisch in diese Richtung tendieren, dass sie sich vielmehr dem Sog einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht entziehen können und sogar ins Autoritäre tendieren, wenn das Kapital weitere Expansionen verlangt; dass es also ein Abhängigkeitsverhältnis der Werteordnung von der Akkumulation gibt – diesen Aspekt hat Honneth aus seiner Aktualisierung des Sozialismus weitgehend gestrichen.

Mit Blick auf den globalisierten Charakter der Arbeitswelt muss Honneths Vorschlagskatalog angesichts des völligen Mangels internationaler demokratischer Institutionen gleich doppelt zynisch wirken. Denn in welchem Forum sollten sich westliche Konsument*innen und chinesische Arbeiter*innen überhaupt zu einer gemeinsamen Willensbildung einfinden? Es rächt sich für Honneth, dass die für ihn so zentrale Arbeit in genau einer Hinsicht nicht betrachtet wird: in ihrem Verhältnis zu dem unwahrscheinlichen Ding Kapital und seinen verschiedenen staatlichen Ausformungen.

Wer ist in dieser Rekonstruktion sozialistischer Ideen für die moderne Demokratie also eigentlich Ross und Reiter? Wenn die wichtigsten Denker*innen des Sozialismus das Urteil aussprachen, dass man der moralischen Begriffswelt der Demokratie grundlegend zu misstrauen habe, dann taten sie das nicht aus philosophischer Unkenntnis. Die Erfahrung zeigte, dass diese Ideen stets auch ein Mittel zur Fortführung von Despotismus und Ungleichheit waren. Diesen Zusammenhang zu erkennen, zu durchbrechen oder allerwenigstens in seinem Selbstlauf zu stören, ist die Aufgabe der Kritik – jener Kritik, die Honneth zur nichtssagenden Forderung nach Anerkennung von einem System verallgemeinert, das sich an den Krisen der Welt nicht stört.

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