»Politischen Gefangenen zu schreiben, wird kriminalisiert«

Die DOXA-Redakteurin Maria Menschikowa über Terrorvorwürfe des russischen Staats und die Arbeit des Onlinejournals

  • Varvara Kolotilova
  • Lesedauer: 4 Min.
Maria Menschikowa bei einer Demo in Deutschland
Maria Menschikowa bei einer Demo in Deutschland

Gegen Sie wurden in Russland Strafermittlungen wegen Aufrufs zu terroristischen Handlungen eingeleitet, darauf steht bis zu sieben Jahre Haft. Was ist der Grund für dieses Verfahren?

Interview

Maria Menschikowa, 29, studierte Philosophie an der Moskauer Lomonossow-Universität und der Staatlichen Akademie für Geisteswissenschaft. Seit 2018 arbeitet sie für das Onlinemagazin DOXA als Redakteurin und schrieb Texte für die Menschenrechtsorganisation Memorial. Menschikowa promoviert an der Ruhr-Universität Bochum zu sowjetischer Philosophie. Varvara Kolotilova sprach mit ihr für »nd«.

Am Freitag vorletzter Woche habe ich aus dem russischen Telegram-Kanal Baza, der den Polizeistrukturen nahesteht, erfahren, dass gegen mich ein Strafverfahren läuft. Zunächst lagen mir keine Details vor. Schließlich wurde klar, dass ein im Juli 2022 geposteter Aufruf gemeint war, unsere Mailingliste mit unzensierten Nachrichten über den Krieg in der Ukraine zu abonnieren. Er enthielt einen Hinweis, dass wir auch über radikale Antikriegsaktionen berichten. Zu dem Zeitpunkt saßen bereits mehrere Personen wegen Brandanschlägen gegen Militärkommissariate in Untersuchungshaft und wir haben dazu aufgerufen ihnen Briefe zu schreiben.

Warum wurde das Strafverfahren jetzt eingeleitet und ausgerechnet gegen Sie?

Es könnte ein humanistischer Akt der zuständigen Ermittlerin sein. Vielleicht war sie angehalten, gegen irgendjemanden strafrechtlich vorzugehen und wählte mich aus, weil ich in der Europäischen Union lebe. Mich kann man ja nicht vorladen. Anfangs löste die Nachricht bei mir sogar eine gewisse Erleichterung aus, weil ich im Unterschied zu anderen DOXA-Mitgliedern in Deutschland über einen festen Aufenthaltstitel verfüge. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass der Beitrag im DOXA-Account des sozialen Netzwerks Vkontakte veröffentlicht wurde, wo die Behörden leicht nachverfolgen können, wer dahinter steht. Bei Telegram wäre das technisch komplizierter.

Hätten sie nicht genauso gut ein weiteres Verfahren gegen den DOXA-Redakteur Armen Aramjan einleiten können, der in Russland im April 2022 wegen Anstiftung Minderjähriger zur Teilnahme an Protestaktionen zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden war, im Anschluss jedoch das Land verlassen konnte? Nach Verkündung der Teilmobilmachung im Herbst sprach er sich öffentlich für Brandanschläge aus, betonte aber, dass dies seine persönliche Meinung sei.

Ja, sie hätten durchaus ein eindeutigeres Statement wählen können. Aber das Brisante an der jetzigen Angelegenheit ist, dass damit ein solidarischer Akt wie das Schreiben von Briefen an politische Gefangene kriminalisiert wird. In Moskau und St. Petersburg finden Veranstaltungen statt, bei denen solche Briefe geschrieben werden. Das ist für Leute in Russland die einzige verbliebene legale Option für politisches Handeln. Sollte auch das künftig als Rechtsverstoß gewertet werden, ist das extrem gefährlich. Diese häufig von Frauen betriebene Soliarbeit findet eher im Stillen statt, ist aber enorm wichtig.

DOXA erreichte im Verlauf studentischer Kämpfe Bekanntheit, als es noch möglich war, diese in Russland offen auszutragen. Wie verortet sich DOXA heute?

Schon vor einiger Zeit hatten wir das Gefühl, unsere Agenda erweitern zu müssen. Inzwischen positionieren wir uns als Informationsprojekt gegen Krieg, Ungleichheit und Diktatur. Die Situation an den Unis behalten wir zwar im Blick, aber wir schreiben auch über Umweltthemen und Ereignisse weltweit, die in den großen Medien keine Aufmerksamkeit finden. Bei uns stehen also nicht Verhandlungen des chinesischen Staatschefs mit Wladimir Putin im Vordergrund, sondern rassistische Übergriffe auf dunkelhäutige Migranten und Studierende in Tunesien. Über arbeitsrechtliche Fragen und Streiks berichten wir ebenfalls – weltweit, aber auch in Russland. Die Gewerkschaften sind ja weiterhin aktiv. Unsere tägliche Aufgabe besteht darin, Nachrichten im Text- und Videoformat zu erstellen und zu verbreiten. Dabei liegt uns daran, Menschen ein umfassendes Bild zu vermitteln, um komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen.

An wen richtet sich DOXA?

Hauptsächlich an ein junges, städtisches, gebildetes Publikum in Russland.

DOXA ist wie auch andere russische Oppositionsmedien gezwungen, vom Ausland aus zu arbeiten. Wie schafft es das Kollektiv trotzdem nah am Geschehen zu bleiben?

Uns ist sehr daran gelegen, eine direkte Verbindung nach Russland zu halten, auch wenn es da eine Schieflage gibt. Wir hoffen, das gelingt uns durch den Kontakt per Telegram-Bot, das garantiert zumindest Anonymität und nimmt vielleicht die Angst davor, uns von Druck auf Studierende an den Unis, Flashmobs und sonstigen Aktivitäten zu berichten. Telegram ist für uns in Russland übrigens das wichtigste Kommunikationsmittel, auch weil es ohne VPN funktioniert. Anders unsere Webseite – sie ist blockiert.

Wirkt sich das neue Strafverfahren auf die Arbeit des Projekts aus?

Die Strafermittlungen beeinträchtigen zunächst mich persönlich, da ich nicht mehr nach Russland fahren kann – das wäre eine Reise ohne Rückkehroption. In Russland darf nicht über die Ereignisse in Butscha berichtet werden. Wir hören ständig von neuen Strafverfahren aufgrund von Kommentaren in den sozialen Netzwerken und selbst unser alles in allem recht harmlose oder mit Bedacht formulierte Beitrag rief eine derart heftige Reaktion hervor. Vor diesem Hintergrund scheint mir wichtig, politische Entscheidungsträger in Europa zum wiederholten Mal darauf hinzuweisen, wie heftig die Repressionen in Russland sind, auch wenn sie oft nach dem Zufallsprinzip ablaufen. Und welche Durchschlagskraft sie entwickeln, wie absurd sie auch sein mögen.

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