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İlker Çatak: »Es gibt im Leben manchmal keine Lösung«

Im Film »Das Lehrerzimmer« gerät eine junge, engagierte Lehrerin in einen Strudel aus Misstrauen, Verdächtigungen und Anschuldigungen. Regisseur İlker Çatak über subjektive Wahrheit, Entscheidungsmomente und seine eigene Schulzeit

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 6 Min.
Leonie Benesch spielt im Film »Das Lehrerzimmer« eine Lehrerin, die es richtig und besser machen will.
Leonie Benesch spielt im Film »Das Lehrerzimmer« eine Lehrerin, die es richtig und besser machen will.

An einer Schule kommt es zu Diebstählen. Die junge Lehrerin Carla Nowak, gespielt von Berlinale-Shooting-Star Leonie Benesch, möchte die Fälle aufdecken, macht aber dabei einen Fehler. Wie sind Sie auf diese Geschichte gekommen?

Interview

İlker Çatak wurde 1984 in Berlin geboren und zog mit zwölf Jahren nach Istanbul, wo er sein Abitur an der Deutschen Schule absolvierte. Danach arbeitete er in Deutschland für Kinoproduktionen und studierte Regie an der Hamburg Media School. Sein Film »Es gilt das gesprochene Wort« gewann beim Deutschen Filmpreis 2020 die Lola in Bronze in der Kategorie Bester Film. 2021 verfilmte Çatak Finn-Ole Heinrichs Roman »Räuberhände« und inszenierte seinen ersten »Tatort«. Sein neuester Film »Das Lehrerzimmer« feierte 2023 bei der Berlinale in der Sektion Panorama Premiere.

Wir sind durch ein Gespräch über Diebstähle darauf gekommen. Ich hatte in der Familie den Fall, dass eine Putzkraft geklaut hat. Johannes Duncker, mein Co-Autor, hat mir erzählt, dass seine Schwester, die Lehrerin ist, im Kollegium einen ähnlichen Vorfall hatte wie im Film beschrieben. Johannes und ich sind gemeinsam zur Schule gegangen. Damals haben wir selbst erlebt, wie die ganze Klasse gefilzt wurde. So sind wir relativ schnell auf die Idee gekommen, die Geschichte an einer Schule anzusiedeln.

Zu Beginn des Films werden die männlichen Schüler einer Klasse aufgefordert, ihre Portemonnaies vorzuzeigen. War das bei Ihnen auch so?

Ja, drei Lehrer kamen herein und sagten: »Mädchen: rausgehen. Jungs: Portemonnaies auf den Tisch legen und nach vorne kommen.« Damals war klar, dass zwei Jungs in der Klasse klauten, aber niemand wollte die Petze sein. Die Schulleitung hat dann eine Razzia angeordnet und die beiden überführt. Dieser Filzmoment war schon krass. Wir haben das damals aber nicht hinterfragt. Keiner von uns hat gesagt: Ihr dürft das nicht, wir müssen euch nichts zeigen. Das Perfide ist, dass du als Schüler häufig nicht um deine Rechte weißt.

Bei unserer Recherche hat eine Schulleiterin gesagt, so etwas ginge heute nur noch unter freiwilligen Vorzeichen. Wir fanden das interessant: Menschen, die in der Hierarchie über dir stehen, sagen: »Das ist freiwillig.« Aber hast du als Kind den Mut zu sagen: »Dann zeige ich dir mein Portemonnaie nicht?«

Kinder kennen ihre Rechte oft nicht. Andererseits zeigt der Film selbstbewusste Schüler*innen, die sehr deutlich einfordern, die Wahrheit zu erfahren, oder?

Das kommt so allmählich. Es wird ja auch eine Bewusstwerdung erzählt, eine Emanzipation. Die älteren Schüler*innen sind forscher, aber die Kleinen müssen erst noch dahin kommen. Ich finde die Kinder im Film schon sehr aufmüpfig. Aber ich war auch so. Als ich zwölf war, habe ich meinen Lateinlehrer vor der ganzen Klasse einen Nazi genannt, weil er mir ein M als ein N ausgelegt hat und die Arbeit dadurch eine Note schlechter war. Es gibt so eine Hybris der Jugend. Als junger Mensch bist du einfach viel radikaler in dem, was du denkst und sagst.

Sie sagen, Schule sei ein Abbild der Gesellschaft. Wie meinen Sie das?

Im System Schule gibt es ähnliche Strukturen und Hierarchien wie in einem Staat. Da ist jemand, der ganz oben sitzt, dann kommen Lehrer*innen mit Befugnissen und Macht. Außerdem gibt es die Schülerschaft, die Elternschaft und ein Presseorgan in Form der Schülerzeitung. Im Grunde ist das Ganze eine eigene Gemeinde mit bestimmten Regeln. Manche Schulen fahren zum Beispiel eine Law-and-Order-Politik in Form dieser Null-Toleranz-Strategie, die wir im Film beschreiben.

Mit diesem System hadert Carla Nowak, die vieles anders machen will als ihre Kolleg*innen. Warum haben Sie sich für diese Art von Protagonistin entschieden?

Wir wollten einfach von einer wirklich tollen Lehrerin erzählen, die es richtig und besser machen will. Eine Lehrerin, die wir selbst gerne gehabt hätten. Wobei wir durchaus einen tollen Lehrer hatten. Wir haben uns entschieden, den ganzen Film an der Schule zu erzählen. Denn letztlich ist es egal, ob Carla Nowak im Altbau oder im Neubau wohnt, ob sie eine Katze oder einen Hund hat. Man erfährt wahnsinnig viel über sie, wenn man ihr einfach zuschaut. Der Charakter eines Menschen offenbart sich in Entscheidungsmomenten. Vor allem, wenn er dabei unter Druck steht. Das ist Drama. Ich glaube, im Film ist es wichtig, dass Figuren nicht auserzählt sind, sondern ein Restgeheimnis behalten.

Carla Novak gerät unter Druck, wird selbst zur Zielscheibe. In was für eine Situation bringt sie sich?

Wir haben es hier mit einem moralischen Dilemma zu tun. Eigentlich haben alle Parteien recht in dem, was sie tun, aber es findet sich keine Lösung. Es ist natürlich undankbar, wenn man wie Carla Nowak in guter Absicht handelt und dann in so einen Strudel gerät. So passiert es aber manchmal. Wahrheit ist subjektiv – vor allem in unseren Zeiten, in denen sich Menschen auf alternative Fakten stützen. Dann geht es nicht mehr um Wahrheitsfindung, sondern um Glaubensfragen. An einer Stelle im Film lügt Carla Nowak selbst, um einen Schüler zu schützen. Dadurch verrät sie ihre eigenen Ideale.

Ein Vorwurf, den der Film aushalten muss, ist, dass er es sich zu einfach macht, weil es keine Lösung gibt. Am Ende möchten die Menschen, dass der Täter gefasst wird und alle am nächsten Morgen in Ruhe zur Arbeit gehen können. Aber es gibt im Leben manchmal keine Lösungen.

Welche Rolle spielt das Lehrerzimmer?

Das Lehrerzimmer hat in unserer Schulzeit einen fast schon mythisch anmutenden Charakter gehabt, weil es der Ort ist, an dem über Schicksale entschieden wurde – zum Beispiel, ob wir ein Jahr wiederholen müssen. Wie überall gibt es auch im Lehrerzimmer Cliquen. Ich glaube, Carla Nowak ist im Kollegium eher eine Einzelgängerin. Vielleicht wird sie ein bisschen belächelt für ihren Idealismus. Letztendlich ist das Lehrerzimmer auch der Ort, an dem ihr großer Patzer stattfindet, der die Geschichte erst ins Rollen bringt.

Es geht um Hierarchien, aber auch um rassistische Strukturen. Entspricht das Ihren eigenen Erfahrungen aus der Schulzeit?

Ich habe keine Anfeindungen erlebt, aber auf dem Gymnasium in Berlin war ich das einzige Kind mit nichtdeutschen Eltern. Die Prozesse, die da stattfanden, sind mir erst später klar geworden. Du versuchst dich anzupassen und nicht aufzufallen. Das Selbstbewusstsein, zu sagen: »Ich bin der Kanake«, hast du als Zwölfjähriger noch nicht. Du sitzt bei den Eltern deiner deutschen Freundin am Esstisch und achtest darauf, nichts falsch zu machen.

Als Sie zwölf waren, ist Ihre Familie nach Istanbul gezogen. Wie war es dort?

Ich war an einer deutschen Schule in Istanbul. Mein Türkisch war nicht so gut. Deswegen war ich unter Türken der Deutsche und in Deutschland unter Deutschen der Türke. Nachdem ich gut Türkisch gelernt hatte, fühlte ich mich in Istanbul angekommen. Aber dann bin ich nach Deutschland zurückgekehrt und fühlte mich wieder fremd. Es hat lange gedauert, aber inzwischen empfinde ich es als großes Glück, die beiden Kulturen erleben zu dürfen und mit ihnen groß geworden zu sein.

Wovon handelt Ihr nächstes Projekt?

Ich arbeite gerade an einer Geschichte über türkische Theaterleute, die durch Staatswillkür über Nacht ihre Anstellung verlieren und entscheiden müssen, ob sie ihre politischen und künstlerischen Ideale aufrechterhalten oder mit dem System zusammenarbeiten. Der Film wird »Gelbe Briefe« heißen.

»Das Lehrerzimmer«: Deutschland: 2023. Regie: İlker Çatak, Buch: Johannes Duncker, İlker Çatak. Mit: Leonie Benesch, Leonard Stettnisch, Michael Klammer. 94 Min. Start: 4. Mai.

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