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»Und Gottes Wille geschah«
Die Familie als riesengroße Narbe: »Kathedralen« von Claudia Piñeiro
Eine 17-Jährige wurde zerstückelt und verbrannt auf einer Müllhalde gefunden. Die Polizei ging von Vergewaltigung mit anschließender Tötung aus; die Ermittlungen wurden bald eingestellt. Die Angehörigen blieben mit ihrer Verzweiflung allein. Ein erschütterndes Geheimnis zerreißt die Familie Sardá, von der Claudia Piñeiro in ihrem neuen Roman erzählt. Wer hat Ana umgebracht? Mit dieser Frage quält sich ihre Schwester Lía so sehr, dass sie fortan nicht mehr an Gott glauben kann und mit diesem Bekenntnis ihre Eltern verstört. Die nun auch sie, die Gottlose, betrauern, zumal sie bald von Argentinien nach Spanien zieht.
In Santiago de Compostela betreibt sie eine Buchhandlung, wo 30 Jahre nach Anas Tod ihre ältere Schwester Carmen mit ihrem Mann Julián auftaucht. Ihr Sohn Mateo sei verschwunden, sie würden ihn in Santiago vermuten. Als sie sich verabschieden, bemerkt Lía auf dem Tisch ein Metallkästchen. »Da ist Papas Asche drin«, sagt Carmen ungerührt. »Also, die Hälfte davon. Die andere Hälfte habe ich in Mamas Grab getan.« Lía wäre fast ohnmächtig geworden. Dass der Vater gestorben war, hatte sie nicht gewusst.
Für die mehrfach preisgekrönte argentinische Autorin ist dies das zehnte Buch im Unionsverlag Zürich. »Kathedralen« wurde 2021 mit dem »Premio Hammett« ausgezeichnet, der alljährlich von der Internationalen Vereinigung der Kriminalschriftsteller vergeben wird. Dabei ist dies kein Kriminalroman nach dem üblichen Muster von Schuld und Strafe. Eher ist es ein Puzzle, das man sich selbst zusammensetzen muss, als Ermittler und Richter in einer Person.
In sieben Kapiteln kommen uns unterschiedliche Sichtweisen auf das Geschehen vor Augen. In inneren Monologen versetzt sich die Autorin in die Figuren hinein, wobei ihr Lías Empörung am deutlichsten aus dem Herzen spricht. Etwas Schreckliches ist geschehen und wird unter den Teppich gekehrt. In ihrer Erschütterung ist sie allein. Mateo, der keineswegs verschollen ist, sondern auf einer Reise zu verschiedenen Kathedralen in Europa und in Santiago Station machen will, soll Lía einen Brief ihres Vaters übergeben. Von allen hat er den größten Abstand zum Geschehen: »Meine Familie, das ist eine einzige riesengroße Narbe, die ein Mord hinterlassen hat.«
Hätte er gleich jenen Brief gelesen, wäre der Roman wohl schon zu Ende. So aber folgt ein tief berührendes Kapitel, in dem Marcela spricht, die mit Ana zur Schule ging und uns die Tote lebendig werden lässt. Ana sei nicht ermordet worden, sondern in der Kirche in ihren Armen gestorben. Als sie allerdings loslief, um Hilfe zu holen, habe sich ihr Ärmel im Bronzesockel des Erzengels Gabriel verfangen. Die schwere Statue kippte um und traf ihren Kopf. Seitdem ist ihr Kurzzeitgedächtnis zerstört, sie gilt als psychisch beeinträchtigt, und kaum jemand glaubt ihren Worten. Dabei ist ihr alles, was vor dem Unfall geschah, in genauester Erinnerung – auch das, worüber zu schweigen sie Ana geschworen hat. Wobei wir dieses Geheimnis ja aus ihrem Monolog erfahren und nun hoffen, dass Elmer, ein von Anas Vater Alfredo bezahlter Detektiv, die richtigen Schlussfolgerungen zieht.
In den folgenden zwei Kapiteln enthüllt sich dann die ganze schreckliche Wahrheit. Die kalten Geständnisse einer blutigen Tat, die zynischen Rechtfertigungen machen schaudern. Die Schuld wird dem Opfer zugeschrieben: »Sie war siebzehn. Was kann ich dafür?« Verantwortung wird delegiert: »Gottes Wille geschah.« Bereits auf den ersten Seiten war ja spürbar, dass es der Autorin nicht allein um die Aufklärung eines Kriminalfalls, sondern auch um dessen gesellschaftliche Hintergründe geht: Eine Abrechnung mit dem Katholizismus im Heimatland des Papstes, wo die Kirche eine Institution öffentlichen Rechts ist und erheblichen Einfluss auf die Politik hat.
Im Original erschien der Roman 2020, als das Thema Abtreibung die Gesellschaft spaltete. Inzwischen sind Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche legal, was nicht heißt, dass sie von Teilen der Bevölkerung nicht auch verurteilt werden. Da gibt Piñeiro der Kirche Schuld, die zum Zwecke ihrer Macht Fanatismus nicht nur zulässt, sondern sogar noch gutheißt.
Wo das Dogma regiert, findet die Scheinheiligkeit fruchtbaren Boden; eigene egoistische Ziele kann man gut hinter religiösem Eifer verstecken. Diese Art Katholizismus mag einem fremd sein, doch im übertragenen Sinne betrifft das Buch eigentlich jede Idee, die Menschen zur Mitleidlosigkeit anderen und auch sich selbst gegenüber verdammt.
Claudia Piñeiro: Kathedralen. A. d. Span. v. Peter Kultzen. Unionsverlag, 311 S., geb., 24 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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