• Kultur
  • Deutscher Buchpreis 2007

Verlustanzeigen

Julia Franck: »Die Mittagsfrau« wirbt für Toleranz über die Zeiten

  • Regina General
  • Lesedauer: 5 Min.

Um Himmels Willen. Schweigen.« Reden hieße: Erinnerungen heraufholen. An etwas denken, das den Verstand sprengen würde. Dieses Leben zwischen Verfolgern und Verfolgten, Gleichgültigkeit und Verachtung, dem Versuch zur Liebe und den Vergewaltigungen, es endet 1945 im Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit. In den Verwüstungen der Seelen.

Die Geschichte beginnt mit dem verstörenden Bild einer jungen Frau mit Krankenschwesterhaube, die verzweifelt versucht, sich und ihren Sohn aus dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Stettin herauszubringen. Hart, zielbewusst, nur das Nötigste kommunizierend, zerrt sie den Sohn mit sich. Von Gerüchten über abgehende Züge hin und her gehetzt, schaffen sie es schließlich in einen der überfüllten Waggons. Angewidert von jeder Berührung, auch der des Sohns, erstarrt sie zur Säule. In einer Zeit der Enge, in der alle Welt um das Überleben läuft, ist Abstand nicht herzustellen. Sie stolpern, gemeinsam mit anderen, auf einen Zielbahnhof. Nicht Berlin, aber immerhin Pasewalk. Was als Erfolg, als Neuanfang erscheint, wird für das Kind zur Katastrophe: die Mutter verschwindet aus seinem Leben.

Die 1970 in Berlin geborene Autorin Julia Franck schreibt eine Geschichte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. »Die Mittagsfrau« ist ebenso poetisch wie radikal. Die schönsten Worte für das Zusammensein mit geliebten Menschen wechseln mit der Beschreibung von Demütigung und Sprachlosigkeit, ohne je eine Spur von Larmoyanz zu hinterlassen. Wer die Rückenmuskeln versteift und nur noch geradeaus blickt, kann die Menschen übersehen und muss nur selten sprechen. Eine Familiengeschichte, niemand wird, was er ist, ohne die Menschen um ihn herum.

Die Kindheit dieser Krankenschwester, Helene Würsich, war nicht unbeschwert, aber sorglos. Es gibt einen liebevollen Vater, ein großes Haus, eine Wirtschafterin und eine merkwürdig verschrobene Mutter, deren Töchter unter ihren Sonderbarkeiten nur deshalb nicht allzu sehr leiden, weil sie sich Freiheiten nehmen und sie auszunutzen verstehen. Die Menschen im Ort zerreißen sich die Mäuler. Toleranz? Ein Fremdwort. Diese schöne, dunkelhaarige Mutter, die nicht mit Mann und Kindern zur Kirche geht, weil sie jüdisch ist, trifft sehr schnell auf kalte Zurückweisung. Und zieht sich, konsequent, in ihre Welt aus Träumen und Erinnern zurück, lange bevor die von Deutschen gemachten Katastrophen die Familie zerstören. Und Katastrophen bietet diese erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zuhauf: Erster Weltkrieg, Inflation, Aufkommen der Nazibewegung, Verfolgungen von Juden, von Sinti und Roma, von Leuten mit anderer Meinung, zweiter Weltkrieg, Bombennächte. Angst, Blut, Tränen, Hunger.

Die Autorin, 1970 geboren, interessieren nicht Ereignisse und Fakten. Ihr ist wichtig, was mit den Seelen von Menschen geschieht, die von einem Verlust zum nächsten getrieben werden, für die es keine Zeit gibt, um irgendetwas »aufzuarbeiten«. Überleben, irgendwie Durchkommen, den Kopf auf den Schultern behalten, Essbares auftreiben, schon das ist mühsam. Frauenrechte? Gibt es nach dem Ersten Weltkrieg noch nicht. Wünschen darf man, Helene wünscht sich ein Medizinstudium. Vergeblich. Der Vaterlandswahn des Vaters endet nach dem ersten Weltkrieg in Siechtum und Tod und leeren Kassen. Gleichberechtigung ist ein Kampfbegriff, Schwester sein immerhin etwas.

Also: Schwester. Goldene Zwanziger in Berlin, ein paar Ausschweifungen und die große Liebe. Für die Schwester in einer lesbischen Beziehung. Für Helene mit dem jüdischen Freund Carl, eine kurze glückliche Zeit. Wieder Verlust: Carl »verunglückt«. Der Mittelpunkt ihres Lebens fehlt, ein großer schwarzer Trichter verwüstet ihr Inneres, zuschütten ist unmöglich. Halt gibt die aufopfernde Sorge für Kranke. Der ihr streitig gemacht wird. Deutsches Elend soll deutsch gelindert werden, ihre Herkunft aber ist »unklar«.

Dann kommt einer, der sie auf Händen tragen will. Er verschafft dieser nach dem Vater geratenen blonden Schönheit einen falschen Ahnenpass. Aus Helene wird Alice. Die Eheschließung, weit weg von allen Bekannten, gerät zum Auftakt einer demütigenden Beziehung. Kontakte zu Mutter und Schwester funktionieren nur noch über Umwege, Freunde gibt es nicht.

Bei der Eröffnung der Reichsautobahn geehrt, »reckte (er) den Arm gen Himmel und blickte mit einem gewissen Stolz in die Runde … Er dankte mit fester Stimme, er dankte jedem, vom deutschen Vaterland bis hin zur Sekretärin des ersten deutschen Automobilclubs für Damen. Heil, Heil, Heil, jedem sein Heil, ein Heil, das Heil. Im Gegensatz zu den sechs Herren, die vor ihm geehrt und ausgezeichnet worden waren, hatte Wilhelm nicht die winzige Lücke erspäht und genutzt, seiner Frau zu danken.«

Isolierung total, noch bevor das Kind geboren ist, verschwindet dieser Brücken bauende, ganz und gar deutsche Mann aus ihrem Leben. Schwarze Löcher gibt es längst nicht mehr nur im Inneren der Menschen, sie sind überall. Ganz real.

Die erste Hälfte des Jahrhunderts hinterlässt Invaliden, geschädigt an Körper und Seele. »Am Herzen erblindet«, wie es im Roman heißt. Auf allen Seiten. Auch scheinbar Unversehrte tragen Verwundungen, Defizite davon, Narben. Und hinterlassen eine Kälte, die der nachfolgenden Generation anhängen wird. Dass nichts von Dauer ist, nicht einmal der eigene Name, endet weder in Schwermut noch in Resignation. Nur in der Ablehnung all dessen, was zur Demütigung führte. Dem Männlichen, auch im Sohn.

»Die Mittagsfrau«, gekonnt erzählt, ist ein einziger Schrei nach Toleranz. Nach Wahrnehmung dieser Narben, nach Verständnis über die Zeiten und Generationen hinweg. Aber Julia Franck sieht sie nicht: Der Sohn weist den späten zaghaften Annäherungsversuch seiner Mutter trotzig ab.

Julia Franck Die Mittagsfrau. Roman, S. Fischer, 430 Seiten, 19,90 EUR.

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