Antisemitismus in Berlin: Von Hasskommentar bis Baseballschläger

Rias-Bericht zu 2022: Von 848 antisemitischen Vorfällen in Berlin äußerten sich 22 in direkter Gewalt

848 antisemitische Vorfälle verzeichnet die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (Rias) für 2022. Ein Rückgang von 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – doch kein Grund zur Erleichterung. Denn die Zahl direkter Angriffe und extremer Gewalt in der Hauptstadt bleibt konstant.

»Antisemitismus ist für Juden und Jüdinnen ein alltägliches Problem«, betont deshalb Benjamin Steinitz von Rias. Er zitiert einen Tweet von Bundesinnenministerin Nany Faeser (SPD), die in Bezug auf eine antiisraelische Demonstration geschrieben hatte: »Für Judenfeindlichkeit gibt es in unserer Gesellschaft keinen Platz.« Steinitz erwidert am Mittwoch bei der Vorstellung des Monitoring-Berichts: »Antisemitismus nimmt in Berlin seit Jahren sehr wohl sehr viel Platz ein.«

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Und das besonders im öffentlichen Raum. Zu den 848 Vorfällen zählen 22 direkte Angriffe, die sich fast ausschließlich auf der Straße, im öffentlichen Nahverkehr, an Gedenkorten, im Café und sogar an einer Schule ereigneten. Der Bericht führt Beispiele auf: In Mitte bespuckte etwa ein älterer Mann eine Frau auf der Straße, die einen Beutel mit einem Davidstern trug. In Charlottenburg-Wilmersdorf schlug eine Person beim Einkaufen unvermittelt einer Hebräisch sprechenden Frau ins Gesicht. Ein Fall gehört zu der Kategorie extreme Gewalt: Am 16. November griff in Spandau eine Gruppe von fünf bis zehn Personen zwei Menschen an. Laut Rias warfen die Angreifer den Betroffenen vor, »Free Israel« gerufen zu haben, und attackierten sie daraufhin mit Baseballschlägern, Messern und Pfefferspray.

Dass Rias »nur« 22 direkte Angriffe zählt, ändert für die Projektreferentin Julia Kopp nichts an der Bedrohungslage. »Diese wenigen Vorfälle haben gravierende Folgen für das Sicherheitsgefühl von Jüdinnen und Juden. Sie müssen sich fragen: Bin ich sicher, wenn ich mich in der Öffentlichkeit sichtbar jüdisch zeige?«

Der Großteil der dokumentierten Vorfälle fällt unter die Kategorie verletzendes Verhalten. 751 Mal verzeichnet Rias Situationen, in denen Jüd*innen ein »Othering« erlebten, also »als fremd oder nicht zugehörig markiert« wurden, so Kopp. In fast jedem zweiten Vorfall wurde auf antisemitische Weise Bezug auf die Shoah genommen.

Über die Hälfte der gesamten Vorfälle fand online statt. Wenn sich Anfeindungen auf konkrete und in Berlin ansässige Menschen oder Institutionen bezogen, nahm Rias sie in die Statistik auf. Welche Wirkung antisemitische Kommentare haben können, macht Anastasia Pletoukhina, Direktorin der Jewish Agency in Berlin, deutlich. Sie erzählt von einem Telegram-Kanal, auf dem sich jüdische Berliner*innen vernetzten, um ukrainische Geflüchtete zu unterstützen. Sie teilten dort private Informationen, bis sich Rechtsextreme in den Kanal hackten und antisemitische Bilder herumschickten. »Die Sicherheit aller Mitglieder war gefährdet, der Chat wurde sofort geschlossen und ein wichtiger Kanal für Geflüchtetenhilfe versickerte«, fasst Pletoukhina die Konsequenzen zusammen.

Bei digitalen wie analogen Vorfällen spielte 2022 der Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Rolle. So wurden Jüd*innen zur Positionierung aufgefordert, für den Krieg mitverantwortlich gemacht oder antisemitische Verschwörungsmythen verbreitet. Weiterhin stark vertreten war laut Rias zudem mit 32 Vorfällen der israelbezogene Antisemitismus. »Bei der Debatte wird oft über die Legitimität von politischen Aussagen gestritten. Aber es wird vergessen, dass es ein Gewaltpotenzial gibt«, bezieht sich Kopp auf den Angriff in Spandau. Die Kategorie Rechtsextrem/Rechtspopulistisch macht dennoch mit 15 Prozent den größten Anteil bei der Frage des politischen Hintergrundes aus.

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