Novelle »Nastja«: Russland frisst seine Kinder

Barbarei in der Idylle: Vladimir Sorokins Novelle »Nastja« ist wiedererschienen

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Terror im Braven: Daniel Richter illustriert Vladimir Sorokin mit aktuellen Kriegsdarstellungen
Der Terror im Braven: Daniel Richter illustriert Vladimir Sorokin mit aktuellen Kriegsdarstellungen

Die Abgründe der russischen Gesellschaft sichtbar zu machen, ist die Spezialität von Vladimir Sorokin. Seit Ende der Siebzigerjahre irritiert der Schriftsteller mit seinen radikalen Texten die russische Öffentlichkeit. Er entlarvt die idyllischen, harmlosen Russlandbilder, wie sie von Propaganda-Erzählungen und allzu glatter, beschaulicher Literatur reproduziert werden, als schönen Schein. Die Novelle »Nastja«, die Sorokin vor etwas mehr als zwanzig Jahren verfasste und die nun in der Übersetzung von Dorothea Trottenberg und ergänzt um Collagen von Daniel Richter im Berliner Verlag ciconia ciconia erschienen ist, erzählt vom Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert und von den Vorboten der kommenden Umbrüche. Sorokin zeigt darin eine Gesellschaft, die sich kultiviert und edel gibt und in der gleichzeitig Gewalt zu einem grausamen wie alltäglichen Ritual geworden ist.

Die Geschichte beginnt harmlos: Ein heimeliges Gutshaus, idyllisch an einem See gelegen. Nastja, die Tochter des Hausherrn, erwacht am Morgen ihres 16. Geburtstags und springt voll freudiger Erwartung aus dem Bett. Sie reißt die Fenster auf, atmet die frische Landluft ein und schreibt in ihr Tagebuch: »Ich weiß noch sehr wenig von der Welt, aber ich liebe sie sehr.« Bald ist das ganze Haus in Aufruhr und auch die ersten Gäste treffen in ihren Kutschen ein, um diesen Festtag gemeinsam zu begehen.

Sorokin imitiert gekonnt den Stil der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, man wähnt sich bei Turgenjew oder Tschechow. Anfangs schleichen sich nur kleine Irritationen in die Idylle, bis Sorokin diese mit einem Schock durchbricht: Die geschäftigen Vorbereitungen in der Küche gelten nicht etwa einem Geburtstagskuchen oder Entenbraten: Nastja selbst soll zubereitet und von der Festgesellschaft verspeist werden.

Fachsimpelnd stehen der Hausherr und einige Gäste um den Ofen herum, während der Koch seine Arbeit verrichtet. Ein Gast ist überzeugt, man müsse »das Feuer ordentlich schüren, damit die Kruste schön kross wird«, Nastjas Vater dagegen ist besorgt: »Pass bloß auf, dass meine Tochter nicht anbrennt.« Sorokin spart nicht mit grausigen Details, wenn die perfekt durchgebratene Nastja schließlich serviert wird und die Gäste sich um den festlich gedeckten Tisch versammeln: »Goldbraun lag sie auf einer ovalen Servierschale, die angezogenen Beine mit den geschwärzten Nägeln fest umschlungen. Weiße Rosenknospen umgaben sie, Zitronenscheiben bedeckten Brust, Knie und Schultern, auf der Stirn, den Brustwarzen und dem Venushügel schimmerten unschuldig weiße Wasserlilien.«

Während Nastjas Mutter ihre Tochter zerlegt und auf den Tellern verteilt, diskutieren die Männer über Vegetarismus und Moral, zitieren Nietzsche und Tolstoi. Im Verlauf des Abends brechen unter dem Schleier der Kultiviertheit immer deutlicher barbarische Gewalt und sexuelle Lust hervor, die festliche Gesellschaft versinkt langsam, aber sicher in einem regressiven Rausch.

Daniel Richters Collagen, die die Novelle begleiten, zeigen ganz ähnlich wie Sorokins Text den Kontrast zwischen der scheinbar harmlosen Idylle und den Abgründen, die darunter lauern. Aber Richters Vorgehen ist dabei weniger nuanciert. Die Basis für seine Collagen bilden Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, die verträumte Landschaften, heimelige Bauernhäuser und ehrwürdige Adlige zeigen. Richter bricht diese Bilder auf, indem er sie mit Darstellungen von Sex, Krieg und Putin überklebt und übermalt. Panzer und Genitalien legen sich über die idyllischen Darstellungen und lassen diese als verlogen erscheinen, genauso wie Sorokin die Kultiviertheit der Gutsgesellschaft als Maske der Grausamkeit entlarvt.

Noch erschreckender als die geschilderte Gewalt ist die Selbstverständlichkeit, mit der diese geschieht. Dass sich Nastja, die »noch sehr wenig von der Welt« weiß und noch so viel vor sich hätte, bereitwillig ihrem Schicksal fügt und einfach hinnimmt, dass ihr Leben endet, bevor es richtig angefangen hat, ist das eigentlich Verstörende an der Novelle: Nastja kämpft nicht, sie akzeptiert, keine Zukunft zu haben. Eine Freundin Nastjas, die auch am Tisch sitzt, beschwert sich sogar, dass sie immer noch nicht dran sei, während all ihre Freundinnen schon gebraten wurden. Ihr Vater antwortet ihr: »Nur Geduld, mein Pfirsich. Dich essen wir auch noch. Kinder müssen gegessen werden. Wozu haben wir sie sonst geboren, was? Essen, essen, essen!«

»Nastja« zeigt auf drastische Weise, wie die eigene Freiheit bereitwillig aufgegeben wird, weil die Tradition einer untergehenden Gesellschaft danach verlangt. Sorokin hat die Novelle auf die russische Intelligenzija der Vergangenheit bezogen, die Totalitarismus und Terror in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht verhindern konnte und so ihre Freiheit verlor. Doch das Bild einer Gesellschaft, die wortwörtlich ihre eigene Zukunft auffrisst, passt auch sehr gut in die Gegenwart, in der die russische Kultur der brutalen Invasion der Ukraine ohnmächtig gegenübersteht und den Angehörigen der jüngeren Generation in Russland jegliche Perspektive genommen wurde, wenn sie nicht als Kanonenfutter an der Front verheizt werden.

Vladimir Sorokin: Nastja. Artwork von Daniel Richter. A. d. Russ. v. Dorothea Trottenberg. Verlag ciconia ciconia, 124 S., geb., 34 €.

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