Tina Turner: Nie wieder Soul!

Wie man zur Queen des Rock wird: Zum Tod von Tina Turner

  • Frank Jörocke
  • Lesedauer: 5 Min.

An einem Winterabend 1957 in St. Louis (Missouri) endete das trostlose Leben von Anna Mae Bullock. Die 17-Jährige entstammte zerrütteten Verhältnissen. Die Aussichten waren düster; sie würde Baumwollpflückerin werden wie so viele schwarze Frauen im »Cotton Belt« der USA, im besten Fall eine mies bezahlte Krankenschwester. Doch dann erlebte sie in einem Rhythm & Blues-Club die Band eines gewissen Ike Turner. Als die Musiker Pause machten, ging sie zum Mikrofon und sang drauflos – von da an war Anna Mae Bullock Geschichte.

Ike, der 1951 mit »Rocket 88« auf Sun Records die erste Single des Rock'n'Roll überhaupt eingespielt hatte, machte sie zur Leadsängerin seiner Band und nannte sie »Tina«. Das klang so ähnlich wie »Sheena«, die Königin des Dschungels, die Ike im Fernsehen gern sah. Indem er ihr den Nachnamen »Turner« gab, nahm er die Hochzeit 1962 ein paar Jahre vorweg. Als Paar führten sie auf fast ganzjährigen Tourneen eine hochenergetische Soul-Rock'n'Roll-Revue auf, am stärksten konzentriert in ihrem Hit »River Deep Mountain High«, geschrieben und produziert von Phil Spector, dessen Konzept vom »Wall of Sound« sich selten besser anhörte.

Doch die Ehe mit Ike wurde eine Alptraumehe. Er nahm Drogen und neigte zur Gewalt, schlug schnell zu. Einmal brach er ihr vor einem Auftritt den Kiefer. Ihr Mund war voller Blut; sie sang trotzdem. Mit 36 Cent in der Tasche floh sie schließlich vor ihm und reichte die Scheidung ein. Als diese am 29. März 1978 rechtskräftig wurde, endete ihr erstes Leben als Tina Turner.

Sie war jetzt pleite. Die Songrechte warfen nicht viel ab; ihren größten Hit, »Proud Mary«, hatte John Fogerty geschrieben. Also wurde Tina Turner Haushaltshilfe, sammelte Essensmarken und trat gelegentlich in Clubs auf, mit Besucherzahlen um die 100 Leute. Es gibt ein Foto aus den frühen 80ern, das in »Spex« erschien. Es zeigt sie bei einem Auftritt in einem Offizierskasino. Glücklich wirkt sie nicht.

Ihre Retter kamen aus einer unerwarteten Ecke, aus England. Martyn Ware und Ian Craig Marsh hatten sich 1981 mit Heaven 17 einen Namen gemacht. Nebenher betrieben sie das Projekt British Electric Foundation (B.E.F.), das 1982 die Compilation »Music of Quality and Distinction« herausbrachte. Das Album besteht aus gecoverten Pop- und Soulklassikern. Für die Gesangsparts gewannen Ware und Marsh unter anderem Gary Glitter, Sandy Shaw – und Tina Turner. Das Bemerkenswerte an den Liedern: Sie sind kaum wiederzuerkennen. Die Stücke wurden von jeglichem Soul befreit und dann schockgefrostet. Das Ergebnis ist Elektropop der kältesten Sorte.

Doch bei einem Song gelang dies nur bedingt. Die Temptations-Coverversion »Ball of confusion« – ein unter massivem Synthesizer-Einsatz produzierter Eisblock – wird von Tina Turner machtvoll zerschnitten. Wie eine Bunsenbrennerflamme frisst sich ihre Stimme durch die kristallinen Soundstrukturen, bis der kalte Elektropop Feuer fängt.

Zwar blieb der kommerzielle Erfolg aus (lediglich in Norwegen reichte es zu Platz 5), aber die Plattenfirma Capitol Records erkannte das Potenzial und ließ Tina Turner und Heaven 17 ein zweites Mal ran. Diesmal schickten B.E.F. den Al Green-Klassiker »Let‘s stay together« in die Kältekammer. Die Coverversion wurde europaweit ein Hit und bahnte den Weg für ein komplettes Tina-Turner-Album. Hierfür verpflichtete das Label neben Ware und Marsh zwei Produzenten, die nicht mal ansatzweise eine Beziehung zur Soulmusik hatten. Terry Britten hatte für Cliff Richard Lieder geschrieben (u.a. »Carrie«), Rupert Hine war verantwortlich gewesen für Chris de Burghs Durchbruchsalbum »The Getaway«. Auch Mark Knopfler wurde mit ins Boot geholt. So klingt der Titelsong »Private Dancer« dann auch – wie ein Stück der Dire Straits mit Gastsängerin.

Doch wie bei Michael Jacksons »Thriller«, das ebenfalls »weiße« Popelemente enthielt, ging die Rechnung auf. Ein halbes Dutzend Songs wurde 1984 und 1985 als Single ausgekoppelt. Deren Reihenfolge liest sich wie eine Kommentierung ihres Ehehorrors mit Ike Turner: »Help!«, »What‘s love got to do with it«, »Better be good to me«, »Private dancer«, »I can’t stand the rain«, »Show some respect«.

Der Respekt blieb nicht aus. Das Comeback der damals 44-Jährigen wurde zum Triumphzug. Auch das Nachfolgewerk »Break Every Rule« 1986 setzte auf die gleiche Formel. Wieder waren Terry Britten, Rupert Hine, Martyn Ware und Mark Knopfler mit an Bord. Nur die Texte gingen in eine andere Richtung. Ein Jahr zuvor hatte Tina Turner den deutschen Musikmanager Erwin Bach kennengelernt. Die Liebe zu ihm beflügelte sie. Es ging nun nicht mehr um Vergangenheitsbewältigung, sondern um Glück in der Gegenwart. »Paradise is here«, wenn »Two people« zusammenfinden und eine »Overnight sensation« erleben. Tina Turner hatte ihren inneren Frieden gefunden.

Das gefiel den Massen, nicht jedoch den Kritikern. Diese warfen ihr vor, sie habe den Soul verraten und sich »weißem« Poprock verschrieben – als wäre eine Schwarze verpflichtet, Black Music zu machen. Tina Turner aber machte keinen Hehl daraus, dass sie den Soul satthatte. Es war die Musik, die sie mit ihrer traumatischen Ehe verband. Indem sie dieses deprimierende Kapitel ad acta legte, schloss sie auch mit ihrer musikalischen Vergangenheit ab und wurde zur Queen of Rock für die großen Hallen und Stadien. Nie wieder Rhythm & Blues, schon gar nicht Blues! Wozu auch! Es gab ja Europa (wo sie Amerika vergessen konnte), es gab Erwin (der ihr sogar eine Niere spendete) und viel Yoga und buddhistische Interessen. Tina Turner starb am 24. Mai bei Zürich mit 83 Jahren. Als Schweizer Staatsbürgerin.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal