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Karneval in Berlin: Zwischen Schmetterling und Scherben

Nach dreijähriger Pause hat der Karneval der Kulturen Hunderttausende nach Kreuzberg gelockt

An der Spitze des Umzuges stolziert ein Frosch, bunte Schmetterlingswesen tänzeln hinterher. Am Straßenrand hinter den Absperrungen drängen sich Menschenmassen, alle wollen einen Blick auf den Berliner Karnevalszug erhaschen. Nach drei Jahren coronabedingter Pause hat der Karneval der Kulturen am Wochenende wieder Kreuzberg erobert.

Hinter dem wilden Treiben steckt auch in diesem Jahr eine politische Botschaft. Klima und Naturschutz, vor allem durch den Kampf indigener Communities: Dieses Thema greifen die teilnehmenden Gruppen immer wieder auf. Der erste Wagen etwa, angeführt von dem Frosch, soll den brennenden Regenwald abbilden. Und ganz im Sinne gelebter Nachhaltigkeit fährt er nicht durch Motor-, sondern durch Menschenkraft: An jeder Seite schieben fünf Personen das Gefährt die Umzugsstrecke entlang.

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Von den rund 50 Gruppen sind zum 25. Karneval der Kulturen nur noch 20 motorisiert unterwegs. Die Mehrzahl nutzt Lastenräder, getanzt wird sowieso zu Fuß auf dem Asphalt. Um bei der Massenveranstaltung den Müll zu reduzieren, setzt das Organisationsteam außerdem auf Blattteller aus Pflanzenblättern oder auf Mehrweggeschirr, das nach eigener Auskunft in einer »Ressourcen schonenden Spülstraße« gesäubert wird. Ein Glasverbot an den teilnehmenden Ständen soll darüber hinaus Scherbenmüll verhindern. Wegen der übrigen Verkaufsstellen am Wegesrand, die wie gewohnt Getränke in Flaschen anbieten, geht dieser Gedanke am Sonntag allerdings nicht ganz auf. Auf Twitter beschweren sich am Montag mutmaßliche Anwohner*innen über kaputte Flaschen, überquellende Mülleimer und Uringestank.

Bei der Anzahl an Menschen lässt sich Vermüllung wohl nicht ganz vermeiden. Hunderttausende sind laut Veranstalter*innen zum Umzug, dem Höhepunkt des Karneval-Wochenendes, gekommen. Zeitweise muss die Polizei mehrere U-Bahnhöfe dicht machen, darunter Hallesches Tor, Mehringdamm und Hermannplatz, damit es an bestimmten Punkten nicht zu voll wird. Geraldine Hepp, Co-Leiterin des Karnevals, freut sich über den Andrang und die ausgelassene Feierlaune: »Die Stimmung ist das, wofür wir das alles machen. Was die Communities hier schaffen, ist ein Geschenk für die Stadt.«

Unter den langjährigen Teilnehmer*innen finden sich viele Gruppen, die Neu- und Alt-Berliner*innen über Musik, Tanz oder Theater zusammenbringen. Dass der Karneval People of Color und Berlins internationaler und migrantischer Szene eine Bühne bietet, entspricht dem Grundgedanken der Veranstaltung. »Als der Karneval der Kulturen 1996 zum ersten Mal durch die Straßen Kreuzbergs zog, verstand er sich als antirassistische und antidiskriminierende Antwort auf fremdenfeindliche Ausschreitungen, die mit den rassistischen Angriffen in Rostock-Lichtenhagen eine bestürzende Zäsur setzten«, heißt es seitens der Veranstalter*innen. Rassistische Gewalt gebe es weiterhin. Zudem zeige sich rassistische Politik etwa auch in Form immer neuer Grenzzäune. Der Karneval solle dieser Realität etwas entgegensetzen und dem »Empowerment«, also der Selbstermächtigung derjenigen dienen, »die über das gesamte Jahr kulturell und integrativ aktiv sind«.

Natürlich lässt sich die Frage stellen, wer nun genau dadurch ermächtigt wird, wenn weiße Frauen in ethno-bemusterten Tüchern ihre Trommeln schlagen. »Das ist eher ein Karneval der Aneignung«, sagt eine Besucherin am Samstag. Doch die Möglichkeit, nicht-deutsche Kultur auf die Straße und vor ein großes Publikum zu bringen, wird von den rund 1200 Umzugsteilnehmer*innen freudig angenommen.

Seit ein paar Jahren schließt die Karneval-Community auch andere marginalisierte Gruppen mit ein. So beteiligt sich am Sonntag zum fünften Mal die Lebenshilfe Berlin, ein sozialer Träger für Menschen mit Behinderung. Während sie vor der Corona-Pause mit einer Trommelgruppe teilnahm, fährt sie am Sonntag im hinteren Teil des Umzuges mit. Dort, wo die Bässe dröhnen und die Leute raven, sorgen zwei Projekte der Lebenshilfe für eine inklusive Party.

»Wir haben den einzigen barrierefreien Lkw mit Rollstuhlrampe«, sagt Markus Lau im Vorfeld des Umzugs zu »nd«. Er arbeitet für die Lebenshilfe und ist Teil der Spaceship-Partyreihe sowie des Kollektivs »Ick mach Welle«, die am Sonntag auf dem Wagen »Inklusion mit Bass: Spaceship macht Welle« einheizen.

Beide Gruppen stehen für inklusive Club- und DJ-Kultur. Die Spaceship-Veranstaltungen finden seit 2016 regelmäßig im Club »Mensch Meier« an der Storkower Straße statt. Sie starten bereits um 18 Uhr, der Eintritt kostet nur zwei Euro und die Boxen sind ein wenig leiser eingestellt – alles Maßnahmen, um die Partys so zugänglich wie möglich zu gestalten. »Die Berliner Club-Szene bezeichnet sich als so offen und tolerant, aber am Ende kommt unser Klientel nicht in den Club. Das wollten wir aufbrechen.« Nicht nur der Dancefloor, auch die Bühne soll inklusiv sein. Das Projekt »Ick mach Welle« richtet sich an angehende DJs und Musiker*innen mit Behinderung und ermöglicht ihnen den Zugang zu elektronischer Musik sowie Auftritts- und Produktionsmöglichkeiten. Auftritte wie beim Umzug.

Lau freut sich darüber, dass die zwei DJs auf dem Wagen sich vor einem derart großen Publikum präsentierten können. »Es ist ein Ausdruck von Teilhabe, wir zeigen: Wir sind Teil dieser Stadt.« Natürlich sehe er ein, warum sich nicht alle Anwohner*innen über die Veranstaltung freuen – über eine Lautstärkebeschränkung von 85 Dezibel und einen zeitlich streng limitierten Soundcheck würden die Veranstalter*innen aber immerhin versuchen, die Lärmbelastung so klein wie möglich zu halten. Etwas Toleranz für das Großereignis sei aber auch gefragt: »Es ist laut und es kommen viele Menschen, das gehört eben zu einem Karneval dazu.«

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