Huren in Brasilien: Bruch mit den Moralvorstellungen

Die Hurenbewegung in Brasilien kämpft seit Jahrzehnten um Entkriminalisierung

  • Niklas Franzen
  • Lesedauer: 4 Min.
Sexarbeiter*innen in Brasilien organisieren sich seit den 80er Jahren in der Hurenbewegung.
Sexarbeiter*innen in Brasilien organisieren sich seit den 80er Jahren in der Hurenbewegung.

Auch in Brasilien wird Sex verkauft und gekauft. Im größten Land Lateinamerikas gibt es seit fast vier Jahrzehnten eine Bewegung, die für die Rechte von Sexarbeiter*innen eintritt. Ihre Geschichte ist mit zwei Namen verbunden: Lourdes Barreto und Gabriela Leite. Die beiden Frauen gründeten in den 1980er Jahren die erste Hurenbewegung des Landes, das brasilianische Prostituiertennetzwerk (RBP). In Brasilien benutzen Aktivist*innen den Begriff »Hure« (puta) anstelle von »Sexarbeiter*in« (professional do sexo). Damit wollen sie ihre Identität zu betonen, wie Barreto in Interviews klarstellt. Außerdem solle man sich nicht dafür schämen, wie die Gesellschaft jemand bezeichnet. Ein »Bruch« mit den gängigen Moralvorstellungen sei notwendig.

Leite ist 2013 verstorben und die heute 80-Jährige Barreto kämpft immer noch als Aktivistin gegen die Stigmatisierung der Branche, unlängst veröffentlichte sie ihre Autobiographie. Eine ihrer Hauptforderungen ist die komplette Entkriminalisierung von Sexarbeit, ein Anliegen von Sexarbeiter*innen-Bewegungen in der ganzen Welt.

Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern ist Sexarbeit in Brasilien jedoch nicht illegal. Menschen, die Sex verkaufen, verstoßen theoretisch nicht gegen Gesetze. Wenn diese Person jedoch in einer Sauna, einem Bordell oder einem Massagesalon arbeitet – wo der Großteil der Sexarbeit heute stattfindet – sind diese Arbeitsplätze strafbar. Das Strafgesetzbuch aus dem 1940 verbietet es, »eine Einrichtung zu unterhalten, in der sexuelle Ausbeutung stattfindet, unabhängig davon, ob eine Gewinnerzielungsabsicht oder eine direkte Vermittlung durch den Eigentümer oder Geschäftsführer vorliegt«. Das bedeutet: Nicht die Sexarbeiter*in wird kriminalisiert, sondern die Eigentümer*innen der Unternehmen. In der Praxis duldet die Polizei das Gewerbe oft, vor allem wenn Schmiergelder gezahlt werden.

Dennoch findet wegen der Teilkriminalisierung ein Großteil der Sexarbeit im Geheimen statt. Das macht Sexarbeiter*innen anfälliger für Gewalt, Ausbeutung und unhygienische Arbeitsbedingungen. Oft sind sie auch Polizeiwillkür und Schikane krimineller Netzwerke ausgesetzt. »Im Namen der ›Rettung‹ werden die Bedingungen durch die Verbotspolitik noch unsicherer und anfälliger für Ausbeutung«, schreibt die Genderforscherin Meg Weeks in der Online-Zeitung »Nexo«. Sie forscht über die Huren-Bewegung in Brasilien und hat ein Buch über die Bewegungsveteranin Gabriela Leite geschrieben.

Aktivistinnen wie Leite und Lourdes fordern seit dem ersten nationalen Treffen von Sexarbeiter*innen im Jahr 1987 die vollständige Entkriminalisierung von Sexarbeit. Die beiden Aktivistinnen pflegen seit jeher enge Kontakte zu Politikerinnen, beteiligten sich selbst für viele Jahre in staatlichen Organisationen, etwa in HIV-Präventionsprojekten. Allerdings scheiterten mehrere Versuche, eine Entkriminalisierung von Sexarbeit im Parlament anzugehen.

Wie die Genderforscherin Weeks schreibt, begannen Leite und Lourdes ihren Aktivismus in der »Pastorale der marginalisierten Frauen«. Die Organisation der katholischen Kirche ging in den 1970er Jahren aus der progressiven Befreiungstheologie hervor. Die Pastorale wollte das Selbstwertgefühl von Sexarbeiter*innen stärken und wandte sich gegen die vorherrschende Sexualmoral – eine für die damalige Zeit fortschrittliche Haltung. Im Laufe der Jahre wandten sich Leite und Lourdes aber von der Kirchen-Organisation ab. Sie wollten die Opferrolle von Sexarbeiterinnen nicht akzeptieren, »lehnten den Moralismus der Kleriker zugunsten einer Vision der Selbstbestimmung« ab.

Eine konservative Sexualmoral und die Stigmatisierung von Sexarbeit prägen Brasilien bis heute. Neben der katholischen Kirche werden rigide Moralvorstellungen auch von den evangelikalen Kirchen geprägt. Die Pfingstkirchen haben immer mehr Einfluss in der brasilianischen Gesellschaft, laut Statistiken könnten ihre Gläubigen schon in zehn Jahren die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Neben der Verteufelung von Sexarbeit kämpfen sie auch gegen LGBTIQ-Rechte und eine Liberalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.

Nicht nur bibeltreue Christ*innen, sondern auch einige Feminist*innen fordern ein komplettes Verbot von Sexarbeit. Sie verweisen auf sexuelle Ausbeutung in der Branche, was tatsächlich ein großes Problem in Brasilien ist. Nachrichten über Zwangsprostitution machen immer wieder die Runde. Gerade im armen, abgelegenen Norden und Nordosten ist die Situation für Sexarbeiter*innen prekär und Frauen – viele davon minderjährig, einige arme Migrant*innen – sind extremer Gewalt ausgesetzt. Außerdem sind 90 Prozent der trans Personen als Sexarbeiter*innen tätig, weil ihnen Arbeit in anderen Sektoren oft verwehrt wird. Sie sind ebenfalls besonders von Gewalt und Diskriminierung betroffen.

Das Land hat sich in den letzten Jahren zu einer beliebten Destination des Sextourismus entwickelt. Nur ein komplettes Verbot könne die Situation der Frauen verbessern, lautet die Forderung in Teilen der feministischen Szene. Aktivist*innen wie Barreto sehen das anders. Ein rigoroses Verbot würde die Situation noch weiter verschärfen, weil Sexarbeiter*innen dann gezwungen wären, ihrer Arbeit im Verborgenen und ohne jegliche Arbeitsrechte oder Schutzmaßnahmen nachzugehen. Außerdem, und vielleicht am wichtigsten für Aktivist*innen wie Barreto: Durch ein komplettes Verbot würden Frauen einen Teil ihrer weiblichen Selbstbestimmung verlieren. Wieder einmal.

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