Hohenschönhausen: Rechte Entzündung am Stadtrand

Seit eineinhalb Jahren brennt es in Neu-Hohenschönhausen regelmäßig, nun steht ein junger Nazi wegen Brandstiftung vor Gericht

Leon S. sitzt hinter Sicherheitsglas. Unbewegt, starr, schweigsam. Das Landgericht Berlin wirft dem 20-Jährigen unter anderem schwere Brandstiftung vor. Laufende Ermittlungen untersuchen zudem einen Zusammenhang zu einer Brandserie im Lichtenberger Ortsteil Neu-Hohenschönhausen. In der Großwohnsiedlung am Ostberliner Stadtrand brennen seit eineinhalb Jahren regelmäßig Keller.

Leon S. ist ein Nazi. So viel lässt sich schon vor einem Urteil feststellen. Er gibt zu, »Heil Hitler« gerufen zu haben. Und er hat zwei Drohschreiben verfasst und verteilt, die Terroranschläge ankündigen, sollte die »Flüchtlingswelle« nicht gestoppt werden. In einem Geständnis am Donnerstag, das einer seiner Anwälte vorliest, heißt es: »Ich wollte mich größer fühlen, als ich bin.« Die Brandstiftung hingegen leugnet er. Nur eine Trittbrettfahrer-Geschichte, nur jugendlicher Größenwahn? Einiges deutet darauf hin, dass es S. und seine drei Freunde, gegen die ebenfalls ermittelt wird, nicht bei Worten belassen.

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Das Ausmaß macht sich schleichend bemerkbar. Einen ersten Hinweis auf eine politisch motivierte Brandserie in Neu-Hohenschönhausen entdeckt die Opferberatungsstelle Reachout im Februar in einer Antwort auf eine schriftliche Anfrage der Linksfraktion im Bundestag. In einer Auflistung aller Proteste und Übergriffe gegen Geflüchtetenunterkünfte 2022 steht: »9. Oktober, Berlin, besonders schwere Brandstiftung, vier Tatverdächtige«. Reachout geht dem Fall nach, kontaktiert Betroffene und nimmt den Brand in die eigene Statistik zu rassistischer und rechtsextremer Gewalt auf. Bei dem betroffenen Mehrfamilienhaus an der Zingster Straße handelt es sich nicht um eine Unterkunft, aber es wohnen geflüchtete Familien dort.

Anfang Mai meldet die Deutsche Presse-Agentur den Prozessbeginn gegen Leon S.: Am 3. August 2022 soll er im Keller eines »von ihm selbst bewohnten« Mehrfamilienhauses Feuer gelegt haben. Auch habe er Schreiben mit »politischen Forderungen« verteilt und »in seiner Wohnung durch ein geöffnetes Fenster ›Heil Hitler‹ gerufen«. Dass dieses Verfahren mit dem Brand vom 3. Oktober zusammenhängen könnte, ahnt zu dem Zeitpunkt noch kaum jemand.

Das Haus, um das es in dem laufenden Verfahren geht, liegt an der Randowstraße, jenseits des Bahnhofs Hohenschönhausen. Bevor S. im November in eine betreute Einzelwohnung zog, wohnte er hier bei seiner Mutter: ein beiger Wohnblock, Gänseblümchen im Vorgarten. Auf den zweiten Blick entdeckt man die Brandspuren: Platten versiegeln die Kellerfenster, an den Wänden darüber klebt noch der Ruß.

»Hier hat alles angefangen«, sagt Paul. Er gehört zur Antifaschistischen Vernetzung Lichtenberg und recherchiert zu der Brandserie. Als »nd« ihn Ende Mai in Neu-Hohenschönhausen trifft, weiß er seit gut zwei Wochen von dem verdächtigten Nazi und seinen drei mutmaßlichen Mitstreitern. »Wir hatten die als Clique davor nicht auf dem Schirm.« Die ständigen Brandstiftungen jedoch, von denen wusste Paul, von denen wusste die ganze Nachbarschaft. »Es gibt eine Facebook-Lokalgruppe mit 12.000 Leuten drin, da wird seit eineinhalb Jahren diskutiert: Da hat ein Keller gebrannt, und da.«

Mindestens 20 Feuer zählt das Lichtenberger Register seit Anfang 2022, bisher ohne Verletzte. Eine Mitarbeiterin der Dokumentationsstelle für Rechtsextremismus, die aus Sicherheitsbedenken ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, begleitet Paul bei dem Spaziergang zu den Tatorten. »Die räumliche Nähe legt nahe, dass es eine Serie ist«, sagt sie. Von Leon S.s früherer Wohnung sind es zu Fuß 30 Minuten bis zum Haus in der Zingster Straße, dessen Keller im Oktober brannte. Mit dem Fahrrad sind es sieben, mit dem Bus fünf Minuten.

Als wir die Falkenberger Chaussee entlanggehen, macht Paul eine ausladende Bewegung mit dem Arm und deutet auf das Viertel rechter Hand: »Hier hat es eigentlich in jedem vierten Haus schon gebrannt.« Die Feuer sind so häufig, dass die Wohnungseigentümer Zettel in den Fluren aufhängen. Paul hat ein Schreiben der Howoge fotografiert. Darin bittet das landeseigene Wohnungsunternehmen die Mieter*innen, Haus- und Kellertüren konsequent abzuschließen.

Dazu kommen mehrere Mülltonnenbrände vor Jugendeinrichtungen. Das Lichtenberger Register ist mit den betroffenen Clubs in Kontakt, es handelt sich vor allem um »Jugendfreizeiteinrichtungen gegen Diskriminierung«, die nach außen politisch Stellung beziehen. Paul erzählt, dass in einem der Zentren S. und seine Freunde als Jugendliche häufiger abhingen – bis sie nach wiederkehrenden Konflikten und rechtsextremen Äußerungen Hausverbot erhielten.

Obwohl die Brände geografisch und zeitlich so nah beieinander liegen, zieht erst das Feuer in dem Haus, in dem S. damals mit seiner Mutter wohnte, Ermittlungen des Staatsschutzes nach sich. Dafür sorgt S. selbst: Er verteilt Drohschreiben. In ungelenker Handschrift steht auf einem karierten Blatt Papier: »Beim nächsten Anschlag sterben Zivilisten.« Und die Forderungen: »1. Islamisierung stoppen (Flüchtlingswelle stoppen); 2. Inflation stoppen.« Der Zusatz »Viel Spaß beim Löschen« lässt sich unschwer mit den Brandstiftungen in Verbindung bringen.

Das Schreiben landet am 1. September 2022 im Bürgerbüro des direkt gewählten CDU-Abgeordnetenhausmitglieds Danny Freymark. Kurz darauf sei Leon S. in dem Büro an der Warnitzer Straße aufgeschlagen und habe bei einem Mitarbeiter um ein Treffen mit ihm gebeten, sagt Freymark zu »nd«. »Er hat sich auf merkwürdige Weise über die Anschläge informiert und sich als Freiwilliger des THW vorgestellt.« Tatsächlich engagiert sich S. damals ehrenamtlich bei dem Technischen Hilfswerk, bezeugt seine einstige Sozialhelferin vor Gericht. Den Termin mit Freymark nimmt S. allerdings nicht wahr. Der CDU-Politiker erstattet Anzeige wegen des Schreibens – dass der mutmaßliche Urheber selbst in sein Büro kam, realisiert sein Mitarbeiter erst im Gerichtssaal.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt haben die Behörden S. im Blick. Das Landeskriminalamt lässt seine Handykommunikation überwachen, heißt es am ersten Verhandlungstag. Dadurch erfahren die Ermittler*innen von einem geplanten Anschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft. Am 30. Dezember durchsuchen 150 Einsatzkräfte mehrere Wohnungen in Hohenschönhausen und verhaften Leon S. Zudem leiten sie Ermittlungen gegen ihn und drei weitere Verdächtige ein, um die Brandserie aufzuklären.

»Einen rassistischen Diskurs gibt es hier schon lange«, sagt Paul, der sich seit 23 Jahren in Hohenschönhausen antifaschistisch engagiert. Von der NPD über die Bürgerbewegung pro Deutschland bis zur AfD: »Die Wahlergebnisse waren hier immer zweistellig.« Bei der Wiederholungswahl erhielt die AfD in Neu-Hohenschönhausen 20,9 Prozent der Zweitstimmen, mehr als doppelt so viel wie in ganz Berlin. Wenngleich weit abgeschlagen hinter dem Wahlkreissieger CDU, ging die Rechtsaußenpartei hier als zweitstärkste Kraft aus dem Rennen.

Ab 2014 ging in Neu-Hohenschönhausen und dem angrenzenden Falkenberg zudem die »Nein zum Heim«-Bewegung auf die Straße. »Es gab wöchentliche Demos gegen Geflüchtetenunterkünfte«, erinnert sich Paul. Besonders groß wird der Protest, als der damalige Senat Sporthallen zu Bettenlagern umfunktioniert. »Da sind dann auch Kids aus den Sportclubs und ihre Sportlehrer bei den Demos hinter der NPD mitgelaufen.«

Leon S. und seine mitverdächtigen Freunde sind damals etwa elf Jahre alt. Neun Jahre später ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen der Brandserie gegen sie. Die Taten wirken nicht strategisch geplant. Die Mitarbeiterin vom Lichtenberger Register warnt aber davor, die Vorwürfe gegen S. und seine mutmaßlichen Komplizen als Kinderstreiche abzutun. »Wer Häuser anzündet, gefährdet Menschenleben. Das ist ein Symptom einer gesamtgesellschaftlichen Stimmung, Folge geistiger Brandstiftung.« Allein: »Dafür, dass es sich wie eine Zäsur anfühlt, kommen erschreckend wenige Reaktionen.«

Paul stimmt ihr zu: »Bis auf die Neuköllner Anschlagsserie gibt es in Berlin nichts Vergleichbares. Wir sprechen von Nazis, die eineinhalb Jahre lang Häuser anzünden.« Seine antifaschistische Gruppe hat Flyer unter der Nachbarschaft verteilt, um wenigstens vor Ort für Aufmerksamkeit zu sorgen. In den Kommentaren auf Facebook habe jedoch Gleichgültigkeit vorgeherrscht. »Sie wollen zwar nicht, dass ihre Keller brennen. Auf die Nachricht, dass Neonazis dahinterstecken, folgte jedoch kein Aufschrei.«

Seit der Verhaftung von Leon S. gab es acht weitere Kellerbrände im Kiez. Die letzten beiden Brandstiftungen fanden laut Lichtenberger Register zeitgleich mit den ersten Prozesstagen statt.

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