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War George Grosz der erste Punk?

Das Kleine Grosz-Museum in Berlin widmet sich den lange Zeit ignorierten »Stick Men« aus dem Spätwerk von George Grosz

  • Gerhard Hanloser
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Stick Men schauen zu: »Disturbed While Eating« heißt dieses Aquarell von 1947
Die Stick Men schauen zu: »Disturbed While Eating« heißt dieses Aquarell von 1947

Walter Benjamin hatte für seine recht pessimistischen geschichtsphilosophischen Thesen das Gemälde »Angelus Novus« von Paul Klee vor Augen. Giorgio Agamben hätte zur Unterstreichung seiner Philosophie des »homo sacer« einen »Stick Man« des späten George Grosz nehmen können. Denn vieles verbindet jene abgemagerten Figuren, die der vom Kommunismus der Sowjetunion desillusionierte Künstler im US-Exil erfand, mit Agambens Gedankenfigur des »nackten Lebens«. Der homo sacer der Antike darf straflos getötet werden, er bewegt sich in einer Zone der Indifferenz und steht außerhalb aller Rechte. Für den Dunkeldenker Agamben soll dies eine sich bis in die Gegenwart durchziehende Figur der Moderne darstellen – von den Konzentrationslagern der Nazis bis zu den heutigen Flüchtlingslagern.

George Grosz kann als Dunkelmaler der 50er Jahre begriffen werden. Der Zeichner und Maler, der noch in den 20er Jahren in Weimar auf Seiten der Kommunisten zeichnerisch agitierte, hatte bereits nach seinem Besuch in Sowjetrussland 1922 einen ersten Utopieverlust durchlebt. Im US-Exil traten die Nachrichten von den Schrecken der Judenvernichtung dazu, und schließlich hatte sein neuer Sehnsuchtsort, die USA, den Zweiten Weltkrieg mit dem Abwurf der Atombombe beendet. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts schreiben sich in die Zeichnungen und Gemälde von Grosz deutlich ein. Nichts wäre also verkehrter, als den in den USA der Nachkriegszeit eher isolierten Maler für »unpolitisch« zu erklären.

Im Kleinen Grosz-Museum in Berlin kann nun eine Sonderausstellung besucht werden, die sich einzig den lange Zeit ignorierten Bildern der »Stick Men« widmet. Diese reduzierten Gestalten sind ganz Maschine – mit Nieten und Nägeln zusammengehaltern; sie sind aber auch Natur. Haben Fell, wirken wie Insekten, haben schmerz- oder hassverzerrte Gesichtszüge. Sie wurden als gefährliche Hornissenmenschen beschrieben oder auch in Anlehnung an Franz Kafka als »Ungeziefer, das die Erde kahl frißt und alles Lebendige tötet«.

In einem Bild von 1946 wird der »Stockmann«, wie Grosz seine gemalten Viecher auf Deutsch nannte, als »Feind des Regenbogens« tituliert. Er steht vor einem Stacheldrahtverhau, steckt in viel zu großen schweren Stiefeln, eine fünfstellige Nummer prangt auf seinem abgerissenen Hemd. Er blickt düster und wütend, mit dem Blick des Ressentiments nach links aus dem Bild heraus, scheint dort etwas Missliebiges zu fixieren. In den Händen hält er eine zerrissene Regenbogenfahne. Befreiung und Frieden ist nicht das, was der Stockmann anpeilt.

Im selben Jahr entsteht ein Bild, in dem eine unterschiedlich groß geratene graue Gruppe von Stick Men zwei Vertreter der Bourgeoisie trifft. Diese sind rosa wie Schweine, einem ragt eine Hühnerkeule zum Schlund heraus, den Bauch zieren Biergläser und Fleisch, viel Fleisch. Dieses Bild scheint sehr stark in der Tradition der antibourgeoisen Agitationsgrafiken Grosz’ aus den 20er Jahren zu stehen. Brechts Verse schallen einem von dem Bild entgegen: »Reicher Mann und armer Mann / standen da und sah’n sich an. / und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst Du nicht reich.« Doch hier – bei Grosz – gibt es keine Aufhebung, keinen Klassenkampf, nicht einmal eine Artikulation der Interessendivergenz. Die Stockmänner starren nur.

Der Grosz-Experte und Kurator der Ausstellung Pay Matthis Karstens hat die Hintergründe der Stick Men sorgfältig rekonstruiert. Dabei dienten ihm Skizzenhefte des Künstlers, der familiäre Briefwechsel und überlieferte Interviews von Grosz. Dieser war Leser von Ernst Wiecherts »Totenwald« von 1946 und empfahl seinen Bekannten die Lektüre dieses Berichts über die Massenvernichtung und den Horror in den Lagern der Nazis in aller Dringlichkeit. Von den Atombombenabwürfen auf Nagasaki und Hiroshima zeigte er sich zutiefst schockiert. Briefe von seinem Schwager und seiner Schwägerin Lotte und Otto Schmalhausen aus Berlin machten ihn mit der Nachkriegssituation vertraut, in der es zu Hunger- und Unterernährungssituationen kam.

Im Land der 1000 Möglichkeiten, das sich der abstrakten Kunst mit Jackson Pollock verschrieben hatte, atmet das Spätwerk von George Grosz den Geist von »No future«. Betrachtet man neben den Bildern der »Stick Men« auch die Collagen, die Grosz in den 50er Jahren fabrizierte, so hat man es in der Tat nicht nur mit einer Haltung, sondern auch einer Ästhetik zu tun, die man aus dem Punk der 70er und 80er Jahre kennt. Wie Schallplattencover anarchoider Punk-Bands – und eher nicht dadaistisch oder im Stil von John Heartfield – wirken diese immer wieder die Ware Fleisch ins Zentrum rückenden Bilder wie »Purgatory« oder »The Ghost of the Sphinx« von 1958. Die Nieten-Stockmänner suchen Fleisch, tragen selbst keines an den Knochen. Die Regenbogenfahne, ein späteres Liebessymbol der Hippies, Peaceniks und Schwulenbewegung, trachten sie zu zerstören. Vielleicht war George Grosz in den USA der erste Punk; sicherlich ist es kein Zufall, dass erst in einer Zeit, in der auch der ästhetische Gehalt von Punk-Covern als museumstauglich angesehen wird, dieser späte Grosz die lang verdiente Aufmerksamkeit erheischt.

George Grosz: »The Stick Men«. Das kleine Grosz-Museum, Berlin, Bülowstr. 18. Noch bis 30. Oktober. Der gleichnamige Katalog erschien im Verlag Walther König und kostet 35 Euro.

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