Nazis wittern Morgenluft und rufen nach Selbstjustiz

Das Urteil gegen Lina E. und der Tag X werden in der extremen Rechten unterschiedlich bewertet

Die Beschäftigung der extremen Rechten mit dem Prozess gegen Lina E. und weitere Antifaschist*innen grenzt an eine Obsession. Seit Beginn des Verfahrens befassen sich verschiedene Akteure immer wieder damit. Das Magazin »Compact« konnte sogar Interna aus den Ermittlungsakten veröffentlichen. Zugleich wird in Chats über weitere Mitglieder der »Hammerbande« spekuliert, wie die Angeklagten von Rechten genannt werden. Fotos von vermeintlichen Mitgliedern werden veröffentlicht und linke Räume als Treffpunkte markiert.

Da ist es kaum verwunderlich, dass das Urteil vor einer Woche mit großer Spannung erwartet wurde. Es führte erst einmal zu Ernüchterung. Die neurechte Bürgerinitiative Ein Prozent veröffentlichte am Tag nach der Urteilsverkündung eine Analyse, welche Schlüsse das »patriotische Lager« aus dem Urteil ziehen sollte.

Das Urteil gegen Lina E. und Co. wird grundsätzlich als zu milde bewertet. Für Ein Prozent deutet es auf einen »antifaschistischen Staat« hin, der sich ideologisch mit der »Hammerbande« einig sei. Dass der Haftbefehl gegen E. außer Vollzug gesetzt wurde, wird als »unverhohlene Kapitulationserklärung des Staates vor linker Gewalt« und »fatales Zeichen der Schwäche« bewertet. Es sei nicht zu erwarten, dass außerhalb der »patriotischen Opposition« ein »Dagegenhalten« stattfinden werde.

Wie dieses Dagegenhalten aussehen soll? »In der Neonazi-Szene wurde zu Gewalt und Selbstjustiz aufgerufen. Man solle die Dinge nun selbst in die Hand nehmen, auch mit brutaler Gewalt, da der Staat die Szene nicht schütze«, erklärt der freie Fachjournalist Felix M. Steiner, der sich seit Jahren mit der Neonazi-Szene befasst. »Linker Terror« könne nur »von Nationalisten gebrochen« werden, heißt es in einem Posting in einem Nazi-Chat, den Steiner via Twitter veröffentlichte. Es folgt der Aufruf: »Seid gewappnet und tut, was getan werden muss, damit sie es nie wieder tun!« In einem anderen Posting heißt es, man solle dafür sorgen, dass »Antifa-Attacken« zu einem »Desaster« würden – damit sei nicht eine »kurzzeitige Festnahme« gemeint.

Aufrufe in dieser Art gibt es zahlreich. Sie passen gut zu einer Tendenz in der Neonazi-Szene, in der in den vergangenen Jahren verstärkt das Training im Kampfsport propagiert wird. Es sei nötig für eine »wehrhafte« Jugend, hieß es etwa in dem Aufruf zu einem Kampfsportevent. Das als zu milde empfundene Urteil hat das Potenzial, die hohe Gewaltbereitschaft in der extremen Rechten noch weiter zu stärken.

Auch »Compact« macht sich Gedanken über das Urteil. Steiner erklärt, dass das Magazin auf den Richter fokussiert sei. Mit dessen Konterfei hat es die Schlagzeile verbunden: »Skandal: Dieser Richter ließ Lina E. laufen«. Für Steiner ist das ein Alarmzeichen. Es zeige »nicht nur die Ablehnung des Urteils, sondern kann auch eine Gefährdung für den Richter sein«.

Mit Euphorie reagieren Teile der extremen Rechten auf diverse Äußerungen nach dem Demonstrationswochenende in Leipzig. Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) hatte angekündigt, das Thema »Linksextremismus« bei der nächsten Innenministerkonferenz auf die Tagesordnung zu setzen. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach davon, »linksextremistische Chaoten« in den Fokus zu nehmen. Von AfD-Politiker*innen und in ihrem neurechten Umfeld wurden diese Äußerungen als Chance wahrgenommen: Mit Anfragen in Parlamenten solle man versuchen, mehr über linke Strukturen herauszufinden. Auch sei es förderlich, linke Gewalt zu skandalisieren. Dadurch habe man die Chance, mehr Wähler*innen in die Arme der AfD zu treiben. Etwas anderes, das man sich bei AfD und Co. verspricht, sind Rechercheergebnisse. Man hofft, Verbindungen zwischen Zivilgesellschaft und militanten Linken zu entdecken. Die Ergebnisse sollen helfen, antifaschistisches Engagement zu diskreditieren.

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