»Wir Kurden sind seit jeher entrechtet«

Bênav arbeitet mit Geflüchteten in Marzahn-Hellersdorf und fordert gerechte Kriterien für deren Verteilung

  • Interview: Lotte Laloire
  • Lesedauer: 7 Min.

Wie geht es Ihnen jetzt, wo Sie ein paar Tage Zeit hatten, das Ergebnis der Türkei-Wahlen zu verarbeiten?

Der erneute Sieg des Despoten Recep Tayyip Erdoğan betrifft mich immer noch sehr. Und ich bin kein Türke! Ich bin Kurde und komme aus Rojava. Die Region gehört offiziell zum Norden des syrischen Staates. Seit 2016 greift das türkische Militär sie an und hält sie teilweise besetzt.

Interview

Bênav ist Student, 25 Jahre alt und Kurde. Aus seiner Geburtsstadt Derîk in Rojava (offiziell Nordsyrien) musste er fliehen und lebt seit sieben Jahren in Deutschland. 2020 hat er in Berlin-Marzahn Abitur gemacht. Seit er Deutsch kann, unterstützt und begleitet er andere Geflüchtete.

Von dort mussten Sie fliehen und sind nach Berlin, nach Marzahn-Hellersdorf gekommen.

Genau. Vom Helene-Weigel-Platz liegt mein Geburtsort Dêrik rund 3800 Kilometer entfernt. Meine Familie, die noch immer dort ausharrt, habe ich seit zehn Jahren nicht gesehen.

Erzählen Sie uns von sich: Was machen Sie jetzt hier in Berlin?

Ich studiere an der Freien Universität Berlin Geschichte und Philosophie auf Lehramt und beschäftige mich politisch mit der kurdischen Frage sowie mit unserer Sprache. Beruflich und ehrenamtlich begleite ich andere Geflüchtete als Sprachmittler für Kurdisch und Arabisch bei Terminen in Behörden wie das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, Jobcenter oder Jugendamt. Außerdem engagiere ich mich in der Adar-Schule und bei Radio Alex.

Wie geht es den Geflüchteten, mit denen Sie zu tun haben, nach diesem Wahlergebnis?

Angst ist ihr bestimmendes Gefühl. Sie befürchten, dass Erdoğan die Gewalt verstärken wird – etwa um von wirtschaftlichen Problemen abzulenken. Meine Klient*innen sind nur noch traurig. In den Wochen davor waren alle motiviert, weil es aussah, als ob der demokratischere Herausforderer gewinnen und sich endlich etwas ändern könnte. Wie hieß der noch?

Sie meinen Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP.

Genau. Aber der hat ja leider verloren.

Ihn hatten viele Kurd*innen in der Türkei unterstützt. Seine Partei, die CHP, wurde in deutschen Medien zuletzt teils als gottgleiche Heilsbringerin dargestellt. Dabei hat auch sie die Kurd*innen in der Geschichte verraten. Sie war verantwortlich für das Massaker im Jahr 1938 in Dersim (türkisch: Tunceli) mit 13 000 bis 30 000 Toten – um nur mal ein Beispiel zu nennen.

Ja, wir Kurd*innen sind seit jeher entrechtet. Lassen Sie mich ein Beispiel von einem Klienten geben: Sie haben ihm in der Schule einen Finger abgetrennt, weil er darauf beharrt hat, Kurdisch zu sprechen. Sie haben seinen Finger zwischen der Wand und der Tür eingeklemmt und sie mit voller Wucht zugeschlagen. Jetzt lebt er hier in Berlin.

Das ist grausam. Diesen Fall kann ich hier und jetzt nicht überprüfen, aber es gibt Dutzende dieser Art, die genau belegt sind. Das ist fast schon eine historische Konstante, oder?

Ja. Wir haben keinen eigenen Staat. Kurdistan wurde durch das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 zwischen der Türkei, Syrien, dem Irak und dem Iran aufgeteilt. Wegen der dortigen Unterdrückung, Verfolgung, Entrechtung und Assimilationspolitik leben Kurd*innen auch in der Diaspora. In der Türkei nimmt sie viele Formen an: Kinder dürfen in der Schule nicht in ihrer Muttersprache lernen, Politiker*innen werden – unabhängig davon, was sie wirklich tun – als »Terroristen« verunglimpft, Journalist*innen werden verfolgt. Sie werden unter fadenscheinigen Vorwänden vor Gericht gezerrt oder jahrelang im Gefängnis eingesperrt.

Ein älterer Berliner, mit dem ich neulich über die Türkei-Wahl sprach, schnaubte: »Wieso wählen die überhaupt für die Türkei, wenn sie in Deutschland leben?« Was sagen Sie dazu?

Ich finde es auch erschreckend, dass so viele Menschen, die hier in einer Demokratie und in Frieden leben, für die Türkei Autokratie und Gewalt wählen. Noch paradoxer finde ich, dass manche Türken, die hier als Antirassist*innen auftreten, in der Türkei eine rassistisch-diskriminierende Politik gegen die Kurd*innen und anderen Minderheiten unterstützen.

Ebenso oft höre ich: »Das betrifft die Türken, die hier leben, doch überhaupt nicht!«

Doch: Es betrifft uns. Solange Erdoğan an der Macht ist, leiden die Menschen auch hier. Sie machen sich jetzt noch mehr Sorgen um ihre Liebsten, die sie zurücklassen mussten. Dass jemals jemand gefahrlos laut sagen kann: »Ich bin stolz, Kurde zu sein«, das wird es mit Erdoğan nicht geben. Sie fürchten sich auch, wenn sie in den sozialen Medien etwas gegen seine Politik schreiben, weil das Konsequenzen für sie selbst und für ihre Familien haben kann.

Auch für die kurdische Bevölkerung in Syrien stellt Erdoğans Wahlerfolg eine Gefahr dar.

Ja, denn wenn Erdoğan erst einmal die Beziehungen zum syrischen Diktator Baschar al-Assad aufnimmt, könnte die kurdische Bevölkerung, geografisch eingeklemmt zwischen zwei Unterdrücker-Regimen, wieder einmal zum »Opfer« dieser Kooperation werden. Wir konnten uns, trotz punktueller Hilfen, noch nie auf Unterstützung militärischer Großmächte wie Deutschland oder die USA verlassen. Wenn die Gewalt erneut eskaliert und wir wieder im Stich gelassen werden, werden noch mehr Menschen von dort nach Europa fliehen müssen.

Alles in allem eine hoffnungslose Situation. Was ist Ihre Prognose für die nächsten Monate?

Die Migrationsbewegungen werden sich jetzt noch verstärken. Nicht nur Kinder und Jugendliche, auch noch mehr Intellektuelle und politisch Engagierte werden in nächster Zeit versuchen, der Bedrohung durch die türkische Regierung zu entkommen. Das sind oft Menschen mit hohem Bildungsstand. Die kommen nicht wegen Armut, sondern wegen ihrer politischen Verfolgung.

Mit steigenden Zahlen rechnen jetzt viele. Wie geht es weiter, wenn die Geflüchteten in Berlin ankommen?

Die Asylverfahren dauern ewig, oft bis zu einem Jahr. Und man muss immer mit einer Ablehnung rechnen. Rund sieben von zehn meiner Klienten erhalten keine oder eine negative Antwort, schätze ich. Das Land muss die Verfahren endlich beschleunigen und den bedrohten Menschen den Schutz gewähren, der ihnen qua deutscher Verfassung zusteht!

Wie ist die Lage in Marzahn-Hellersdorf?

Ich habe circa zwei Jahre in Lagern in Marzahn-Hellersdorf mit Geflüchteten gearbeitet, etwa in der Paul-Schwenk-Straße. Schon letztes Jahr gab es hier kaum noch Platz. Derzeit beherbergt der Bezirk zusammen mit Lichtenberg und Pankow 40 Prozent aller nach Berlin Geflüchteten.

Das hat auch die Bezirksbürgermeisterin von Marzahn-Hellersdorf, Nadja Zivkovic (CDU), schon thematisiert. Sie hat vom Land Berlin nun klare Kriterien für die Verteilung der Geflüchteten auf die Bezirke gefordert. Was halten Sie davon?

Ich stimme ihr zu. Klare Kriterien sind immer gut.

Weniger Geflüchtete im Bezirk, das könnte auch Rassisten gefallen.

Ich meine das anders: Es braucht Kriterien für die Verteilung, damit sich die Lebensbedingungen der Geflüchteten verbessern. Denn es geht nicht nur darum, dass die Geflüchteten am Anfang einen Ort zum Leben brauchen; sie brauchen auch Kitas, Schulen und Deutschkurse, um sich in die Gesellschaft integrieren zu können.

Was könnte die Bürgermeisterin im Bezirk noch besser machen?

Das habe ich der alten Bürgermeisterin Dagmar Pohle (Die Linke, Anm. d. Red.) schon vor Jahren geschrieben. Die kurdische Sprache wird bedauerlicherweise auch hier immer noch vernachlässigt. Info-Broschüren oder Formulare erstellt der Bezirk in allen möglichen Sprachen: Türkisch, Arabisch … Nur Kurmandschi sucht man vergeblich.

Texte auf Kurdisch übersetzen zu lassen, sollte kein allzu großer Aufwand sein. Schließlich gibt es viele qualifizierte Menschen wie Sie, die das erledigen können.

Es wäre zumindest ein Anfang, damit sich die – oft sehr jungen, schwer traumatisierten – Menschen in Marzahn-Hellersdorf oder in Deutschland generell ein bisschen mehr willkommen fühlen.

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