»In Peru gab es Massaker«

Die linke Politikerin Verónika Mendoza über die Regierung von Dina Boluarte in Peru

  • Interview: Martin Ling
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie haben am 7. Juni an einem Treffen von Parteien aus dem sozialdemokratischen Spektrum aus Europa und Lateinamerika in Brüssel teilgenommen. Was denken die Kollegen über die Absetzung des peruanischen Präsidenten am 7. Dezember, die Dutzenden getöteten Demonstranten danach. War das Thema im Europaparlament?

Ja, es war ein Thema, das zum Oberthema passte: Die Herausforderungen, vor denen sowohl Lateinamerika als auch Europa stehen. Da sind vor allem die Klimakrise, aber auch die Krise der liberalen Demokratie zu nennen, die durch den Vormarsch der Ultrarechten verschärft wird. Das hat etwas damit zu tun, dass die liberale Demokratie nicht in der Lage war, die Probleme der breiten Bevölkerung zu lösen. Zum Beispiel das Problem der massiven sozialen Ungleichheit in Lateinamerika. Ich habe das peruanische Beispiel als ein sehr repräsentatives für die Probleme genannt, die durch die multiple Krise in Lateinamerika und Europa hervorgerufen werden. Es gibt ein gemeinsames Bewusstsein darüber, dass das, was in Peru passiert ist, die Politik des Staatsstreichs durch die Ultrarechte, kein auf Peru beschränktes Phänomen ist.

Interview

Verónika Mendoza, Vorsitzende der linken Partei »Nuevo Perú« (»Neues Peru«) und zweimalige Präsidentschaftskandidatin der Linkskoalitionen »Frente Amplio« (2016) und »Juntos por el Perú« (2021).

Inwiefern?

Die Ultrarechte putschte 2020 mit Unterstützung von Polizei und Militär gegen Evo Morales und die Bewegung des Sozialismus (MAS) in Bolivien, eine Woche nach dem Amtsantritt von Lula an Neujahr 2023 stürmten Anhänger des ultrarechten brasilianischen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro das Regierungsviertel in Brasília. Das sind alles Zeichen für die neue Stärke der Ultrarechten. Oder schauen wir nach Kolumbien. Obwohl die linke Regierung von Gustavo Petro einen großen Rückhalt in der Bevölkerung hat, stößt sie bei den Massenmedien und den mächtigen ökonomischen Gruppen auf Gegenwind, beide versuchen, die Regierung zu destabilisieren. Deswegen ist der Fall Peru durchaus exemplarisch, das wird auch hier so gesehen.

Und was haben die Kollegen aus Europa zum Fall Castillo direkt gesagt?

Mehr als über die Frage der Legitimität von Castillos Vorhaben, den Kongress aufzulösen und der Absetzung von Castillo durch den Kongress, haben wir vor allem über die dramatische Situation seitdem gesprochen. Wie verhält sich die aktuelle Regierung von Dina Boluarte? Das war das Thema. Die Regierung von Boluarte ist eine autoritäre, konservative und mafiöse Koalition, in der die Ultrarechte führend ist. Sie haben die herrschenden Medien, die wirtschaftliche Macht und das Militär sowie die Polizei unter ihre Kontrolle gebracht. Boluarte ist nicht mehr als die Maske dieser Regierung. Diese rechte Koalition ist nicht nur für 68 Tote bei Protesten verantwortlich, davon 49, die durch Sicherheitskräfte vorsätzlich erschossen wurden, sie ist dabei, die Institutionen zu zerstören.

Wie passiert das konkret?

Sie haben mit Personalbesetzungen das Verfassungsgericht übernommen, sie haben die nationale Ombudsstelle übernommen. Jetzt versuchen sie noch, die Institutionen des Wahlsystems zu übernehmen, um die folgenden Wahlen kontrollieren zu können. Diese heftigen Angriffe auf die demokratischen Strukturen erfordern eine energische Antwort der Demokratien aus Europa. Dafür habe ich mich bei dem Treffen stark gemacht. Die Menschenrechte und die Demokratie müssen in Peru verteidigt werden. Es wäre nicht akzeptabel, dass die Regierungschefin Boluarte in Europa hofiert wird, sollte sie zum EU-Lateinamerika-Gipfel am 17. und 18. Juli wirklich kommen.

Ist das zu befürchten?

Stand jetzt, ja. Gerade war Alberto Otárola unbehelligt in Spanien und Frankreich. Er ist jetzt Präsident des Ministerrates, war aber bis 21. Dezember Verteidigungsminister und damit verantwortlich für die Repression gegen die Demonstranten nach dem Sturz von Pedro Castillo am 7. Dezember mit vielen Toten. Er nahm wie selbstverständlich an einem Treffen der Industrieländerorganisation OECD teil, der Peru beitreten will. Er schüttelte den OECD-Mandatsträgern die Hände und es gab kein Wort der Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in Peru. Das ist inakzeptabel. Vor allem weil Otárola Verteidigungsminister war, als das Massaker in Ayacucho geschah, als an einem Tag zehn Menschen vorsätzlich getötet wurden. Und es darf nicht passieren, dass beim EU-Lateinamerika-Gipfel am 16./17. Juli dasselbe passiert, Boluarte kommen sollte und kein Wort über die Menschenrechtsverletzungen verloren wird.

Ist eine neue Verfassung der Ausweg aus der tiefen politischen Krise Perus? Oder vorgezogene Wahlen? Welche Vorschläge liegen auf dem Tisch?

80 Prozent der Bevölkerung sprechen sich für vorgezogene Neuwahlen aus und dafür, dass die Regierung Boluarte und der Kongress abtreten. Aber der Bevölkerung ist auch klar, dass ein Regierungswechsel nicht ausreicht. In den vergangenen sechs Jahren hatte Peru sechs Präsidenten. Das ist ein schlagender Beweis dafür, dass der Wechsel der Figuren nicht reicht, wir bedürfen eines grundlegenden Wandels. Und deswegen fordern 70 Prozent der peruanischen Bevölkerung eine neue Verfassung. Deswegen müsste der erste Schritt zur Lösung der Krise ein Plebiszit sein, ob die Bevölkerung eine neue Verfassung will oder nicht. Die Antwort dürfte angesichts der Umfragen klar ausfallen und danach müsste eine Verfassunggebende Versammlung einberufen werden. Es ist klar, dass dieser Prozess seine Zeit brauchen wird, weil er durch die Institutionen geht. Aber der Prozess hat von unten schon begonnen. Die Peruaner und Peruanerinnen diskutieren schon auf den Straßen, in den Stadtvierteln über die Notwendigkeit einer neuen Verfassung und was sie bedürfte: neuer, fairer Spielregeln und neuer Werte. Die Rückeroberung der Souveränität über die eigenen Territorien, die Rohstoffe, dazu Bildung, Gesundheit, Wohnen als Rechte und nicht dem Markt als Geschäftsmodell unterworfen. Die Rechte müssen für alle gelten, ob Stadt- oder Landbewohner, ob Quechua, Aymara oder Asháninkas, einfach für alle. Es ist wichtig, dass der Prozess von unten aus Europa mit unterstützt und begleitet wird.

Aber von den USA und der EU gab es bisher in Richtung der Regierung Boluarte nicht viel zu hören, oder?

Nein, Besorgnis über die Gewalt, Besorgnis um die Demokratie, Besorgnis um die Menschenrechte. All diese Verlautbarungen begrüßen wir. Aber das ist ungenügend. Wir erwarten eine klare Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung Boluarte wie es sie die Interamerikanische Menschenrechtskommission vorgenommen hat. Die hat klar festgestellt, dass es Massaker in Peru gab, dass es außergerichtliche Tötungen gab. Von den USA und der EU vermissen wir so klare Aussagen.

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