Energetische Sanierungen: Die Musterplatte

Im thüringischen Stadtroda wird ein WBS-70-Wohnblock umfassend modernisiert. Das könnte ein Vorbild sein

  • Sebastian Haak, Stadtroda
  • Lesedauer: 7 Min.

Das Gedankenspiel mit den Flugzeugtoiletten geht Jens Fischer nicht aus dem Kopf. Dabei ist nicht allzu lange über diese Idee diskutiert worden. »Da habe ich gleich gesagt: Das machen wir nicht«, sagt der Bauplaner. Die Mieter, davon ist er überzeugt, hätten das auf gar keinen Fall mitgemacht. »In einem Einfamilienhaus, in dem jemand lebt, der das wirklich will, kann man das vielleicht versuchen.« Aber hier, in Stadtroda, in der August-Bebel-Straße, in diesem Plattenbau, der sich hinter Fischer erhebt und in dem sich 144 Wohnungen befinden? Niemals hätte das funktioniert, sagt er.

In der Theorie war der Toiletten-Vorschlag geradezu logisch. Immerhin wird dieser zu DDR-Zeiten errichtete Plattenbau gerade umfassend energetisch saniert und soll am Ende möglichst klimaneutral sein. Fischer ist Geschäftsführer eines Ingenieurbüros in Jena, der die Modernisierung als Planer begleitet. Die Menschen, die dort leben, sollen in Zukunft mit so wenig Strom, Wärme und Wasser wie möglich auskommen können. Für das Klima wäre das ebenso gut wie für die Kontostände der Mieter, von denen kaum einer zu den Topverdienern der Republik gehören dürfte. Schon seit 2018 beschäftige man sich mit diesem Vorhaben, das ein Pilotprojekt sei, erzählt Ralph Grillitsch, Geschäftsführer der Stadtrodaer Wohnungsbaugesellschaft. Gebaut wird seit 2022, während in allen Wohnungen Menschen bleiben und niemand für die Bauphase eine Ausweichwohnung bekommt – was zweifellos eine Herausforderung ist. Im Sommer 2024 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein.

Für die Modernisierung des Plattenbaus, der in Stadtroda gemeinhin nur »die Mauer« genannt wird, sind rund 3 Millionen Euro veranschlagt worden. Davon übernimmt das Thüringer Umweltministerium 2,4 Millionen Euro. Eine Bedingung dafür ist, dass die Kaltmieten in den Wohnungen nach dem Ende der Arbeiten nicht steigen. Ohne Förderung sei eine solche Sanierung allerdings nicht zu finanzieren, räumt Grillitsch ein. Künftig werde zu überlegen sein, wie staatliche Förderprogramme für die Wohnungswirtschaft verändert werden müssen, damit solche Zuschüsse jenseits von einzelnen Pilotprojekten möglich werden, erklärt er.

Interessant ist dieses Vorhaben auch deshalb, weil dabei an einem WBS 70 gebohrt und gesägt und verkabelt wird. Das ist jener Plattenbautyp, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in vielen DDR-Städten hochzogen worden war; ein industriell-vorgefertigtes Mehrfamilienhaus, das es in mehreren Ausführungen gibt. Nach Angaben des Bundesbauministeriums aus dem Jahr 1997 gehören etwa 42 Prozent der zu DDR-Zeiten errichteten etwa 1,5 Millionen Plattenbau-Wohnungen zu diesem Gebäudetyp. Hunderttausende Menschen in Ostdeutschland leben heute noch in WBS-70-Wohnungen. Bei vielen kommunal oder genossenschaftlich organisierten Wohnungsgesellschaften machen Immobilien dieses Typs einen erheblichen Teil ihres Kernbestandes an Wohnungen aus. Auch das macht die Tragweite dieses Projekts aus. Was Grillitsch und Fischer in Stadtroda umsetzen, könnte bald auch in Erfurt übernommen werden, in Suhl, Berlin oder Neubrandenburg.

Teil ihrer Philosophie ist, dass sie nur das erneuern, was notwendig ist. Fenster und Fassaden, Dächer und Elektroleitungen wurden in der August-Bebel-Straße bereits in den 90er Jahren saniert. Wesentliche Effizienzsteigerungen wären bei einer neuerlichen Modernisierung nicht mehr zu erwarten gewesen, erklären Fischer und Grillitsch. Eigentlich sollten auch die Abwasserleitungen noch ersetzt werden, aber zu Beginn der Bauarbeiten sei bemerkt worden, dass die noch in einem guten Zustand sind.

Zweifellos hätten die Flugzeugtoiletten, die mit Unterdruck funktionieren, jede Menge Wasser gespart. Aber Fischer glaubt nicht, dass das auf Akzeptanz gestoßen wäre. »Sie können bei den Menschen die Gewohnheiten nicht derart stark ändern.« Nicht bei Toilettendingen. Auch sonst nicht, wenn es um Klimaschutz oder Klimaanpassung gehe. Maßnahmen gegen diejenigen durchsetzen, die dann damit leben müssen? »Ich wünsche demjenigen viel Glück, der glaubt, dass er das hinkriegt«, sagt er.

Außerdem ist in jeder Wohnung eine eigene Lüftungsanlage eingebaut worden, was dabei hilft, den Wärmeverbrauch zu reduzieren. Dafür, erzählt Grillitsch, hätten Handwerker in jedem Raum mit einer Außenwand ein großes Loch von innen nach außen bohren müssen. Das sei ein »intensiver Eingriff« für die Mieter gewesen – und ein Beispiel dafür, in welchen Details die Bauherren bei diesem Projekt nahezu jeden Tag dazu lernen. Denn um den Kernbohrer an der Wand zu fixieren, mussten die Installateure noch ein weiteres Loch in die Wand bohren. »Ungefähr so groß wie ein Zwei-Euro-Stück«, erklärt Grillitsch. Das wurde anschließend von Malern wieder verschlossen, was mehr Aufwand bedeutet habe, als er und seine Kollegen vorher geahnt hätten.

Aber die wohl innovativste Energieeinsparung wird in den Kellern des Plattenbaus erzielt. Dort, wo es warm und stickig ist, geht Fischer durch eine Tür, die so schmal ist, dass sie noch verbreitert werden muss, um dort Wassertanks installieren zu können. Über ein neuartiges, in Thüringen entwickeltes Trennsystem soll in diesen Behältern sogenanntes Grauwasser gesammelt werden. Also Abwasser, das aus der Dusche, Waschmaschine oder Geschirrspüler läuft und in vielen Fällen noch ziemlich warm ist. Dieses Grauwasser soll dafür genutzt werden, um frisches Wasser zu erwärmen, das oben aus den Hähnen läuft. Dafür sei ein eigenes Leitungssystem erforderlich, erläutert Fischer, weil diese Technik verhindern müsse, dass Grauwasser sich mit sogenanntem Schwarzwasser mischt, also allem, was durch die Toilette gespült wird. Dieses Abwasser wird wie bisher direkt in die Kanalisation geleitet.

Wichtig sei immer die Kommunikation mit den Mietern, erklärt Grillitsch, der natürlich weiß, dass beim Einbau der Photovoltaikanlagen, der Lüftungen, des Trennsystems und der vielen anderen Dinge, die in diesem Wohnblock verbaut werden, auch etwas schiefgehen kann. Die Wohnungsbaugesellschaft müsse den Mietern sehr genau erklären, was sie vorhat. Bislang allerdings hat es viel besser geklappt, als Grillitsch erwartet hatte.

Diese »Operation am lebenden Herzen«, wie er die Sanierung nennt, sei bei den Mietern kaum auf Widerstand gestoßen. Weder vor Beginn der Arbeiten, noch währenddessen. Eigentlich seien sie vielmehr von der Idee angetan gewesen, eine Modernisierung zu erhalten, ohne dass die Miete steigt und ihre Nebenkosten damit gesenkt oder wenigstens stabil gehalten werden können. Bislang gibt es nur Schätzungen, wie hoch die Einsparungen sein werden. Ziel des Projekts ist es auch, eine Bestandsaufnahme der Kosten und des Nutzens vorzunehmen.

Nur vier oder fünf Mieter hätten die beauftragten Handwerker zunächst nicht in die Wohnung lassen wollen, erzählt Grillitsch. In einem Fall, weil jemand einen Versandhandel aus seiner Wohnung betrieben habe und sie voller Kartons gewesen sei. Auch diese Menschen hätten aber am Ende eingelenkt. »Im Grunde genommen ging’s durch eine entsprechende Kommunikation einigermaßen über die Bühne«, sagt er. »Ich hab’ mir das sehr viel schwieriger vorgestellt.«

Dennoch ist das natürlich keine Garantie dafür, dass der Kontakt mit den Mietern immer glattlaufen muss. Fischer, der schon viele Sanierungen in ostdeutschen Städten durchgeführt hat, beobachtet dabei immer wieder, dass »je kleiner die Stadt ist, desto unkomplizierter sind die Mieter«. Das habe überhaupt nichts mit der Technik zu tun, die man in eine Wohnung einbauen wolle. Die sei oft identisch. Aber die Mentalität in größeren Städten sei doch eine andere als in Kleinstädten wie Stadtroda.

Aufgeschlossener gegenüber solchen Sanierungen sind wohl auch Vermieter in kleinen Kommunen, wo die Kontakte zwischen Wohnungsunternehmen und lokalen Energieversorgern oft enger sind als in größeren Städten. In dem Gebäude, in dem die Wohnungsbaugesellschaft ihren Sitz hat und das Luftlinie nur ein paar hundert Meter von dem Sanierungsprojekt entfernt liegt, ist das auch zu sehen. Das Türschild ganz unten verrät, dass neben dem Wohnungsunternehmen auch die Stadtwerke hier ihren Sitz haben. Noch deutlicher, wenn auch nicht auf den ersten Blick sichtbar, wird diese Verbindung in der Person von Grillitsch, der neben der Wohnungsbaugesellschaft auch die Stadtwerke führt.

Gerade diese enge Verbindung ist wichtig. Weil es Stadtwerke-Chefs üblicherweise nicht sofort jubeln lässt, wenn Kunden erzählen, sie würden jetzt Technik in ihre Häuser einbauen, die dazu führt, dass sie bald weniger von dem kaufen wollen, was Stadtwerke so anbieten. Strom. Fernwärme. Und Wohnungsgesellschaften sind für Stadtwerke ja nicht irgendwelche Kunden. Sondern große und finanzstarke Geschäftspartner.

Eine umfassende energetische Sanierung des Gebäudebestandes in Deutschland kann eigentlich nur gelingen, wenn eine große Mehrheit dahintersteht. Vermieter, Mieter, Energieversorger und auch die Allgemeinheit, die es schließlich befürworten muss, wenn viele Milliarden Euro Steuergeld in Umbauten gesteckt werden. Das zeigt auch dieses Projekt in der August-Bebel-Straße in Stadtroda. Manchmal geht es nicht so sehr um die Technik, sondern um das, was die Menschen für zumutbar halten. Flugzeugtoiletten in Wohnungen jedenfalls, da sind sich Fischer und Grillitsch sicher, wären kaum auf große Gegenliebe bei den Mietern gestoßen.

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