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Freiheit im Zirkuszelt
Bei Cabuwazi setzen sich Kinder und Jugendliche akrobatisch mit Bewegungsfreiheit und Abschottung auseinander
Es riecht nach kandiertem Zucker vor dem Zirkuszelt. Am Eingang hat jemand eine Popcornmaschine aufgestellt, an der zwei Teenager das süße Korn in kleinen Tüten verkaufen. Sie sind Teil des Cabuwazi-Festivals »Freedom of Movement: Bits and Pieces – Zirkusidentitäten«, das am Wochenende auf dem Tempelhofer Feld stattfand. Es ist rund um die Jugendgruppe des Zirkus-Kollektivs entstanden. 2017 gab es das erste Festival, nachdem man sich entschieden hatte, einen weiteren Standort des Cabuwazi-Zirkus auf dem ehemaligen Flughafen zu eröffnen. Dort war eine temporäre Unterkunft für geflüchtete Menschen errichtet worden. Der Bedarf für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, sich zu treffen, an Aktivitäten teilzunehmen und auszutauschen, war groß.
Cabuwazi wurde in den 90er Jahren als Kinderzirkus gegründet und richtete sich schon immer an Kinder und Jugendliche in Vierteln, die weniger Teilhabemöglichkeiten und Chancen boten. Es gibt keine Tiere, der Zirkus ist ein sogenannter Neuer Zirkus, der sich an der Kunstform des Theaters orientiert, aber für die Performance Zirkuselemente nutzt. Die eigene Persönlichkeit und die Biografie der Performerinnen spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Andrang ist inzwischen so groß, dass es auch Gruppen für die ganz Kleinen und für junge Erwachsene gibt.
Kein klassischer Zirkus
Die Jugendlichen Liv, Djoya und Yamin sitzen mit dem Trainer Tadios und der künstlerischen Leiterin Daphne zusammen. Für sie sei wichtig, am Ende eine Show zu haben, auf etwas hinzuarbeiten, erklärt Liv. Sie ist schon seit insgesamt zehn Jahren dabei, am Standort Tempelhof macht sie seit drei Jahren mit. Yamin kam zum Zirkus, weil ein Freund dabei war, und Djoya ist ebenfalls schon einige Jahre dabei und hat früher Capoeira gemacht. Hier genießen sie die Freiheit und den Spaß des Miteinanders. Es gibt keine festgelegten Disziplinen, vielmehr können sich alle aussuchen, was sie machen möchten.
Zu den schönsten Momenten zählen die Auftritte, wenn es stressig wird und manchmal ein bisschen »chaotisch« zugeht. Denn dann kann es kompliziert sein, »alle zusammenzuhalten und gut miteinander zu kommunizieren«, sagt Djoya und lacht. Viele Kinder und Jugendliche sprechen mehrere Sprachen, am meisten nutzen sie Deutsch, manchmal wird übersetzt. »Man lernt von den anderen und die Atmosphäre ist immer freundlich«, fügt Liv hinzu. Die Übungen und einzelnen Elemente, die die Teenager gemeinsam wählen und zu Showelementen verbinden, würden so lange erklärt, bis sie alle verstanden hätten.
Machtverhältnisse akrobatisch umdrehen
Freitagabend sitzen dann alle zusammen, Mohammed kocht. Die Stimmung ist gelöst, die Jugendlichen erzählen Witze und lernen mehr über die Kulturen der anderen. »Ich erlebe die Teilnehmer*innen dann noch einmal ganz anders«, erklärt Tadios. Er selbst kommt aus der Zirkuswelt, kennt sich mit den verschiedensten Disziplinen aus und steht ab und zu selbst noch auf der Bühne. »Dort fühle ich mich frei«, sagt er.
Tadios erklärt, was in der ersten Show des Abends passiert. Was die Gruppe »Resist Exist« auf Englisch und Deutsch an die Zeltwand projiziert, während eine Stimme sinngemäß auf Arabisch sagt, dass sie in einem System lebe, das keinen Platz für sie habe. Dort im Rampenlicht können die Machtverhältnisse umgedreht werden und diejenigen, die akrobatisch vorführen, was sie innerlich antreibt oder auch lähmt, bekommen nicht nur Aufmerksamkeit. Sie legen auch die Themen und die Showelemente fest. Ohne sprechen zu müssen, können sie sich ausdrücken.
Was verstehen sie unter »Freedom of Movement«? Djoya sagt, dass es für sie nicht nur bedeutet, dahin gehen zu können, wo sie hingehen möchte, sondern auch ihr Leben so zu leben, wie sie es sich vorstellt. »Dass man auch in der Gruppe nicht seine fest geschriebene Rolle hat, sondern sich weiter ausprobieren kann«, sagt Liv.
Daphne gibt den Jugendlichen den Raum, den sie brauchen, fügt künstlerisch zusammen, was organisch wächst, baut ein, was sie von den Gruppen selbst lernt. Die US-Amerikanerin hat auch einen deutschen Pass und so kann sie fast überall auf der Welt problemlos reisen, lebt seit ihrer Jugend in Deutschland. »Ohne mein eigenes Zutun habe ich diese Freiheit«, sagt sie.
Zirkus ist politisch
In der zweiten Show des Abends setzen sich die Senegalesen Ibrahima N’diyae und Aly Johnson als die »Idol Boyz« mit den Gefahren auseinander, denen sich die Menschen aussetzen, die versuchen, auf illegalem Weg nach Europa zu migrieren. Die Fahrt über das Mittelmeer ist dabei oftmals nur die letzte lebensgefährliche Etappe einer mühseligen monate-, manchmal jahrelangen Reise. Einige wenige Menschen schaffen es in die Festung Europa und enden dann vielleicht in einer der Geflüchtetenunterkünfte am Tempelhofer Feld direkt neben den bunten Zirkuszelten von Cabuwazi.
Im Juni ist das späte Abendlicht unwirklich pink und tieforange. In den wild wachsenden Grasflächen des ehemaligen Flugfeldes haben verschiedene Vogelarten ihr Zuhause. Das Recht, sich frei bewegen zu können, haben nicht alle. Hier unter dem Zeltdach gibt es einen kleinen Ort, an dem sich manche diese Freiheit zurückholen können.
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