Von Atmosphäre bis Zensus

Die Projektauswahl für das zweite Beobachtungsjahr des James-Webb-Weltraumteleskops ist erfolgt

  • Ilka Petermann
  • Lesedauer: 7 Min.
Leuchtkräftige Sterne wie hier Wolf-Rayet 124 geben jede Menge Materie ans umgebende Weltall ab. Die Aufnahme des James-Webb-Teleskops wurde am 14. März 2023 veröffentlicht.
Leuchtkräftige Sterne wie hier Wolf-Rayet 124 geben jede Menge Materie ans umgebende Weltall ab. Die Aufnahme des James-Webb-Teleskops wurde am 14. März 2023 veröffentlicht.

Mit Carina und Stephan ging es los – den ersten spektakulären Aufnahmen des James-Webb-Weltraumteleskops (JWST), die der Öffentlichkeit am 12. Juli 2022 von der Nasa präsentiert wurden. Genauer waren es der »Carinanebel«, ein Emissionsnebel im südlichen Sternbild Kiel des Schiffes (lateinisch »Carina«) und »Stephans Quintett«, eine Gruppe von fünf Galaxien im Sternbild Pegasus. Seitdem hat das JWST, Infrarotteleskop und Gemeinschaftsprojekt der Weltraumagenturen der USA, Europas und Kanadas, Wissenschaftler und Öffentlichkeit gleichermaßen mit seiner technischen Präzision begeistert.

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Nun startet das Teleskop in sein zweites Beobachtungsjahr und Astronomen weltweit konnten dazu Vorschläge für ihre Forschungsprojekte einreichen. Ein Komitee aus Hunderten Astronomen aus verschiedenen Arbeitsbereichen wählte aus den rund 1600 anonym eingereichten Projekten jene aus, die ein mehr oder weniger großes Stückchen der gut 5000 ausgeschriebenen Beobachtungsstunden mit dem JWST erhalten werden. Insgesamt 249 Vorhaben waren dieses Mal erfolgreich, die ein breites Themenfeld von den größten Strukturen im Universum, Galaxien, Schwarzen Löchern und aktiven Galaxienkernen, Sternpopulationen und -entwicklung bis hin zu Eigenschaften und der Entstehung von Exoplaneten abdecken.

Rund die Hälfte der Zeit wurde an kleine Programme vergeben, solche, die weniger als 25 Stunden Beobachtungszeit benötigen, ein gutes Drittel ging an mittlere Programme (25 bis 75 Stunden) und der Rest an große Vorhaben, die mehr als 75 Stunden Beobachtungszeit nutzen.

Datenschätze für alle

Hinzu kommen sogenannte »Treasury Programs«, die darauf abzielen, »Datenschätze« von größerem Umfang und bleibendem wissenschaftlichem Wert zu erzeugen. Die zusammenhängenden und umfassend aufbereiteten Datensätze sollen so als Grundlage dienen, zahlreiche unterschiedliche Fragestellungen zu bearbeiten und werden der wissenschaftlichen Gemeinschaft schneller als bei normalen Beobachtungsprogrammen üblich zur Verfügung gestellt.

Mit einem dieser Treasury Programs wollen Astronomen einen Zensus der lokalen Galaxienpopulation erstellen, um einen besseren Einblick in die Entwicklung von Galaxien zu erhalten. Galaxienentwicklung wird zu großen Teilen vom Materie-Feedback von Sternen angetrieben, die im Laufe ihres Lebens ihre Umgebung und das interstellare Medium mit frischem Material anreichern – aus dem im Laufe der Zeit wiederholt neue Sterngenerationen entstehen können, eine Art Materie-Recycling im All. Im Rahmen des Programms wird eine repräsentative Auswahl an Galaxien beobachtet und ihre Struktur mit hoher Auflösung untersucht: die Natur und Beschaffenheit des interstellaren Mediums, die Verteilung von Staubwolken und damit auch die Zeitskalen für die Entstehung, Entwicklung und das explosive Ende von Sternen.

Besonders spendabel mit jenem Materie-Feedback sind extrem massereiche, leuchtkräftige Sterne. Unsere Sonne, im kosmischen Vergleich eher ein Leichtgewicht, verliert im Laufe ihrer gesamten, Milliarden Jahre dauernden Hauptreihenzeit nur einen winzigen Bruchteil ihrer Masse über sogenannte »Sternwinde«, einen Strom von Materie, der von der Sternoberfläche ausgeht. Sterne, die rund zehn- bis hundertfach so schwer sind wie die Sonne, geben Materie dagegen mit »vollen Händen« aus: Eta Carinae etwa, ein Stern mit der geschätzt 100- bis 200-fachen Sonnenmasse, hat während eines 20-jährigen Ausbruchs im vorletzten Jahrhundert rund eine halbe Sonnenmasse pro Jahr verloren.

Der genaue Mechanismus der Sternwinde ist bis heute noch nicht vollständig verstanden. Ein Projekt wird sich mit der Beobachtung von Sternwinden der schwersten Sterne in der circa 200 000 Lichtjahre entfernten Kleinen Magellanschen Wolke befassen, um Theorien und Modelle von strahlungsgetriebenen Winden weiter zu verbessern. Neben dem Verständnis des Windmechanismus selbst hätten die Erkenntnisse auch einen erheblichen Einfluss auf das Gebiet der Sternmodellierung, bestimmt die Masse eines Sterns doch letztendlich seinen Entwicklungsweg, seine Lebensdauer und damit auch sein – aller Wahrscheinlichkeit nach – sehr explosives Ende.

Ein Schwarzes Loch als Ausreißer?

Nun ist es bei der Sternmasse im Kosmos ja ähnlich wie bei der Teigmasse in der Küche: Ein »bisschen« Schwund ist immer. Wenn aber ein ganzes supermassereiches Schwarzes Loch aus einer Galaxie »verschwindet«, dann müssen selbst hartgesottene Astronomen noch einmal ganz genau hinschauen. In einer früheren Arbeit entpuppte sich eine Leuchtspur auf Aufnahmen des Hubble-Teleskops nicht als ein häufig auftretender Treffer eines kosmischen Teilchens auf den Detektor, sondern als eine ganze »Straße« von jungen, leuchtkräftigen Sternen. Nach ersten Analysen vermuteten die Forscher, dass nach einer Kollision von drei Galaxien vor mehr als 50 Millionen Jahren eines der zentralen Schwarzen Löcher durch die chaotische Wechselwirkung aus dem dynamischen Trio, beziehungsweise seiner Heimatgalaxie, herausgeschleudert wurde und auf seiner folgenden Reise zirkumgalaktisches Gas solcherart komprimiert hatte, dass eine ganze Sternentstehungstrasse entstand.

In einem Beobachtungsprogramm soll die Natur des rasenden Objekts über extrem präzise spektroskopische Messungen von umgebenden Gasmassen ergründet werden. Sollte es sich wirklich um ein Schwarzes Loch handeln, würde dies ein vor mehr als 50 Jahren postuliertes Ereignis eines »Runaway Black Hole«, einem »Ausreißer-Schwarzen-Loch«, zweifelsfrei bestätigen.

Vermutlich würden dann die Sektkorken knallen und die Kameras blitzen und man würde vielleicht auch schon besser wissen, was sonst noch – und vor allem wo – im All blitzt. Kurze Gammastrahlenblitze, die zu den leuchtkräftigsten Erscheinungen gehören und noch in kosmologischen Distanzen detektiert werden können, werden mit massereichen verschmelzenden Objekten, etwa zwei Neutronensternen, oder mit besonders leuchtkräftigen Supernovae, sogenannten Kilonovae, assoziiert.

Bekannt ist, dass jene Ereignisse Elemente wie Silber, Gold und Uran produzieren, und ihre Positionsbestimmung kann somit wertvolle Hinweise auf die Verteilung der schwersten Elemente im Universum liefern. Nun machen »Gammablitze« ihrem Namen alle Ehre: Bei einer Dauer von weniger als zwei Sekunden wird es daher nötig, ihre Heimatgalaxie zu lokalisieren, um durch deren Rotverschiebung auch die Distanz des Gammablitzes bestimmen zu können. Oft konnten in Aufnahmen des Hubble-Teleskops jedoch keine Galaxien beobachtet werden. Mit der verbesserten Auflösung des JWST soll nun untersucht werden, ob sich eine leuchtschwache Galaxie bisher nur schüchtern im Hintergrund gehalten hat – oder ob sich das Ausgangsobjekt vielleicht sogar eine beträchtliche Strecke von seiner Ursprungsgalaxie entfernt hat, bevor es zum verräterischen Aufblitzen kam.

Die Anfänge des Universums

Und wenn man dann schon fern sieht – vielleicht könnte man noch ein Stückchen weiter blicken. Ein weiteres Projekt zielt darauf ab, die ältesten und am weitesten entfernten Galaxien zu entdecken. Die Absorptionslinien in den Spektren von Objekten »am Rand des Universums« sind deutlich ins Rote, zu größeren Wellenlängen hin, verschoben – ein Ergebnis der Ausdehnung des Universums. Mit dem JWST könnten nun auch jene am höchsten rotverschobenen Galaxien beobachtbar werden, die einen bisher verborgenen Einblick in die Kinderstube des Universums erlauben und das Wissen um die Vorgänge der Entstehung der ersten Galaxien ermöglicht.

Und vielleicht findet sich dann ja sogar einer der allerersten Sterne, die nur aus den nach dem Urknall entstandenen Elementen Wasserstoff und Helium bestehen. Sterne fusionieren im Laufe ihres Lebens leichte zu immer schwereren Elementen, die nach dem explosiven Ende des Sterns im interstellaren Medium verteilt werden. Aus dem solcherart angereicherten Material kann eine neue Generation Sterne entstehen – die nun aber in ihrer Wasserstoff-Helium-Mischung auch eine winzige Prise schwererer Elemente (in der Astronomie »Metalle« genannt) beinhalten. Zwar hat man bisher schon einige extrem alte Sterne gefunden: etwa den 13,53 Milliarden Jahre alten Stern J1808-5104 mit einer Metallhäufigkeit, die nur einem Zehntausendstel des Wertes der Sonne entspricht. Aber ein Stern ganz ohne »Heavy Metals«, der ist bisher noch nie aufgetreten, wäre aber zweifelsohne ein absoluter Superstar für Astronomen.

Planeten mit Atmosphäre gesucht

Und dann gibt es auch noch Zeit für »Rock« beziehungsweise für kleine Gesteinsplaneten (»Rocky Planets«), die sich um massearme Zwergsterne bewegen. Von dem recht häufigen Planetentyp ist bekannt, dass er oft in gemäßigten Umlaufbahnen um seinen Stern vorkommen kann, in Gegenden, die dauerhaft flüssiges Wasser ermöglichen könnten. Entscheidend für die Lebensfreundlichkeit gilt dazu auch das Vorhandensein einer Atmosphäre, die ausgleichend auf Wetter und Klima wirkt und schädliche (UV-)Strahlung ausreichend absorbieren kann.

Ob derzeit bekannte Gesteinsplaneten über eine Atmosphäre verfügen, konnte mit dem bisherigen Auflösungsvermögen von Weltraumteleskopen nicht geklärt werden. Mit dem JWST wird es nun möglich, herauszufinden, ob sich das Smalltalk-Thema »Wetter« auch auf Exoplaneten universeller Beliebtheit erfreuen könnte. Dazu wird »Trappist-1«, ein 40 Lichtjahre von der Erde entferntes, aus sieben Gesteinsplaneten bestehendes System, genauer beobachtet.

Frühere Untersuchungen der beiden innersten Planeten zeigten bisher keine eindeutigen Anzeichen für eine Atmosphäre, mit dem neuen Projekt soll nun eine neue Technik erprobt werden, welche die Temperaturdifferenz auf der Tag- und Nachtseite der Planeten exakt vermisst und so einen klaren Hinweis auf das Vorhandensein einer Gashülle liefern kann.

Einen etwas längeren Atem brauchen dagegen Astronomen, die sich mit der Beobachtung von Exomonden befassen, jenen Trabanten, die weit entfernte Exoplaneten umkreisen. Zwar gibt es einige Exomond-Kandidaten – bisher konnte jedoch noch keiner zweifelsfrei bestätigt werden. In dieser Beobachtungsrunde bekam zwar kein Exomond-Forschungsprogramm den Zuschlag, doch nach der Auswahl ist vor der Auswahl: Der Stichtag für JWST Runde 3 steht schon Ende Juni bevor!

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