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Gerichte entscheiden Guatemalas Wahl

Menschenrechtsverteidiger Jorge Santos über die Präsidentschaftskandidaten und die prekäre Lage im Land

  • Martin Reischke
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Koordinator der guatemaltekischen Menschenrechtsorganisation Udefegua beobachten Sie eine zunehmende Verfolgung und Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidigern im Land. Hat sich die Sicherheitslage für Aktivistinnen und Aktivisten in Guatemala verschärft?

2022 haben wir mehr als 3500 Übergriffe registriert, das sind etwa dreimal so viele wie noch im Jahr zuvor. Wir glauben, dass sich Guatemala gerade von einem Staat mit autoritären Zügen zu einem Land entwickelt, in dem sämtliche demokratischen Institutionen von einem »Pakt der Korrupten« kontrolliert werden. Damit meine ich die Wirtschaftselite des Landes ebenso wie mafiöse Politiker und Mitglieder der organisierten Kriminalität sowie Militärs im Ruhestand, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.

Interview

Jorge Santos ist einer der profiliertesten Menschenrechtsverteidiger Guatemalas. Er arbeitet als Koordinator der guatemaltekischen Nichtregierungsorganisation Udefegua, die seit mehr als 20 Jahren in Gefahr geratene Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten im Land unterstützt.

Bis 2019 hat die internationale Antikorruptionsmission CICIG gemeinsam mit der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft große Fortschritte im Kampf gegen die Korruption erzielt. Heute dagegen wird selbst die Rechtsprechung von korrupten Akteuren kontrolliert, viele Richter und Staatsanwältinnen mussten deshalb das Land verlassen. Wie ist es dazu gekommen?

Wenn man sich anschaut, wie etwa die ehemaligen Generalstaatsanwältinnen Claudia Paz y Paz oder Thelma Aldana kriminalisiert und verfolgt werden, dann sieht man, dass es Akteure trifft, die an sehr wichtigen Gerichtsprozessen im Land beteiligt waren. Dafür wird nun systematisch Rache genommen. Als 2015 die Regierung von Präsident Otto Pérez Molina nach Korruptionsermittlungen der CICIG zurücktreten musste, dachte die Bevölkerung, dass Wahlen ein Ausweg aus der Krise sein könnten. Das war ein großer Fehler, denn die Umstände, unter denen Wahlen im Land stattfinden, hatten sich überhaupt nicht geändert. So ist damals ein Mann wie Jimmy Morales an die Macht gekommen, mithilfe einer Partei ehemaliger Militärs, die die kriminellen Strukturen im Land schnell wieder zum Leben erweckten.

Diese Strukturen haben sich unter seinem Nachfolger Alejandro Giammattei verfestigt. Am kommenden Sonntag wird in Guatemala ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Besteht die Chance, dass sich die Lage für Menschenrechtsaktivisten in Zukunft wieder entspannt?

Unter den Kandidaten, die die Umfragen anführen, gibt es niemanden, der für eine Einhaltung der Menschenrechte oder den Schutz von Menschenrechtsverteidigern im Land steht. Da ist Zury Ríos, die Tochter des früheren Regierungschefs Efraín Ríos Montt, der wegen Völkermords verurteilt wurde. Als seine Tochter darf Zury Ríos laut Verfassung eigentlich gar nicht antreten, aber die Gerichte haben ihre Teilnahme trotzdem genehmigt. Ríos fährt einen klaren Antimenschenrechtskurs, sie fordert zum Beispiel die Einführung der Todesstrafe. Ein anderer Kandidat, Edmond Mulet, wird beschuldigt, während des Bürgerkriegs illegale Adoptionen von guatemaltekischen Kindern ins Ausland unterstützt zu haben. Und die Kandidatin Sandra Torres ist in verschiedene Korruptionsaffären verstrickt.

Zury Ríos hat sich nie von ihrem Vater distanziert. Steht sie für eine Kontinuität der politischen Ideen von Efraín Ríos Montt?

Sie negiert die Geschichte des Landes und behauptet, dass es in Guatemala keinen Genozid an der indigenen Bevölkerung gegeben habe – trotz der überwältigenden Anzahl an wissenschaftlichen Beweisen und Zeugenaussagen. Die Kontinuität zeigt sich darin, dass der Staat korrupt bleiben und das Rechtssystem ausgeschaltet werden soll, um so Straflosigkeit auf verschiedenen Ebenen zu garantieren. Zum einen mit Blick auf die Vergangenheit und die schweren Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkriegs, zum anderen mit Blick auf die korrupten Akteure in der Gegenwart. Und zuletzt auch mit Blick auf die Zukunft und die garantierte Straflosigkeit für diejenigen, die dieses korrupte Modell durchsetzen.

Einige der Präsidentschaftskandidaten wurden erst gar nicht zu den Wahlen zugelassen – etwa die linke indigene Politikerin und Aktivistin Thelma Cabrera sowie die konservativen Politiker Roberto Arzú und Carlos Pineda. Warum?

Wir müssen konstatieren, dass diese Wahlen nicht vom Volk, sondern von den Gerichten entschieden werden. Viele Menschen im Land sind sehr verwirrt angesichts des völlig ungewöhnlichen Vorgehens des Obersten Wahlgerichts sowie von Richtern, die nur solche Kandidaturen zulassen, die dem »Pakt der Korrupten« zugutekommen. Der Grad an Illegitimität ist bei diesen Wahlen sehr hoch.

Welche Rolle kommt in dieser Situation der internationalen Gemeinschaft zu?

Guatemala ist ein Postkonfliktland, in dem es während des Bürgerkrieges einen Genozid an der indigenen Bevölkerung gab. Aufgrund der Erfahrung dieser furchtbaren Verbrechen braucht das Land internationale Unterstützung und Begleitung. Wenn diese Unterstützung schwächer wird, dann laufen wir Gefahr, dass sich die Geschichte wiederholt. Wir fordern deshalb von der internationalen Gemeinschaft, die guatemaltekische Gesellschaft in ihrem Kampf um die Rückgewinnung der Demokratie noch stärker zu unterstützen.

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