Encrochat: Schockwelle von Europol

Polizeiagentur bilanziert Knacken von verschlüsselten Telefonen

Um der zunehmend leichteren Überwachung durch Geheimdienste, Polizei und Zoll zu entgehen, bringen seriöse und unseriöse Anbieter komplett verschlüsselte Telefone auf den Markt. Diese rund 1000 Euro teuren Kryptohandys kommunizieren im eigenen Netz, löschen ihren Inhalt auf Knopfdruck und verzichten auf Software, die ein Einfallstor für Behörden bieten könnte. Allerdings ohne Erfolg: Seit 2017 hat der Geheimdienst der französischen Gendarmerie mithilfe der Polizei aus den Niederlanden daran gearbeitet, das verschlüsselte Netzwerk Encrochat zu knacken, im Juli 2020 meldeten sie Vollzug.

Soweit bekannt wurden mehr als 115 Millionen Gespräche von rund 60 000 Nutzern geknackt. Diese Daten wurden anschließend an zahlreiche andere Länder weitergegeben, um dort Ermittlungen anzustoßen. Waren zwei oder mehr EU-Mitgliedstaaten betroffen, halfen Europol und die Justizbehörde Eurojust bei der Koordination.

Für die europäischen Strafverfolger war der Hack ein Goldschatz. Deutlich wurde dies am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Lille, auf der Europol und Eurojust Bilanz ihrer »Operation Emma« zogen: Weltweit seien auf Grundlage der Encrochat-Daten 6558 Verdächtige festgenommen worden, darunter 197 »Hochwertziele«. Rund 740 Millionen Euro Bargeld seien beschlagnahmt und weitere 154 Millionen Euro auf Bankkonten oder in bar eingefroren worden. Auch die Zahl beschlagnahmter Gegenstände ist beträchtlich, darunter über 100 Tonnen Kokain, 971 Fahrzeuge, 83 Boote und 40 Flugzeuge sowie 271 Grundstücke oder Immobilien.

Europol bezeichnete die Encrochat-Ermittlungen als »Schockwelle im organisierten Verbrechen in Europa und darüber hinaus«. So seien Mordanschläge und Überfälle verhindert worden, außerdem unzählige Straftaten im Bereich von Korruption, Drogenhandel und Geldwäsche. Auch gegen die Encrochat-Betreiber wird ermittelt; die führenden Köpfe sowie die Entwickler seien identifiziert worden, sagte die zuständige Staatsanwältin Carole Etienne am Dienstag auf der Pressekonferenz.

Allerdings bleiben Zweifel, ob die Daten, die aus einer anlasslosen Massenüberwachung eines Geheimdienstes stammen, vor Gerichten verwertbar sind. Auch in Deutschland haben die Behörden Tausende neue Ermittlungsverfahren eingeleitet und mussten dafür neue Stellen bei Justizbehörden schaffen. Mehrere von den Beschuldigten angerufene Gerichte urteilten zunächst, dass die Verwendung der geheimdienstlich erhobenen Daten rechtswidrig sei. Jedoch entschied der Bundesgerichtshof in Leipzig vor über einem Jahr, dass dies zur Aufklärung schwerer Straftaten erlaubt sei. Zudem seien die Informationen von Frankreich, mithin einem EU-Mitgliedstaat, erhoben und im Rahmen der europäischen Rechtshilfe weitergegeben worden. Den an diesem Regelwerk teilnehmenden Ländern sei grundsätzlich zu trauen.

Das letzte Wort ist indes noch nicht gesprochen: Weitere Encrochat-Klagen sind vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg anhängig.

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