Ukraine rätselt über Wagner-Aufstand

Weiter ist unklar, wie geschwächt der russische Präsident Wladimir Putin aus den Ereignissen hervorgeht

  • Bernhard Clasen
  • Lesedauer: 4 Min.
Mitglieder des privaten Militärunternehmens Wagner verlassen das Gebiet des Hauptquartiers des südlichen Militärbezirks und das nahe gelegene Gebiet in Rostow am Don, Russland.
Mitglieder des privaten Militärunternehmens Wagner verlassen das Gebiet des Hauptquartiers des südlichen Militärbezirks und das nahe gelegene Gebiet in Rostow am Don, Russland.

Der Aufstandsversuch am vergangenen Samstag ist gescheitert – und dessen Anführer, Jewgenij Prigoschin, der Verlierer. Doch auch Putin hat Federn lassen müssen. In dieser Einschätzung sind sich Beobachter, Telegram-Kanäle und Portale in der Ukraine weitgehend einig. »Normalerweise blamiert sich in einer solchen Situation einer der Konfliktpartner, und zwar meistens der Verlierer. Aber in diesem Fall haben sich beide blamiert«, meint der ukrainische Militärexperte Olexandr Kowalenko auf seiner Facebook-Seite.

Erneut habe Putin Schwäche gezeigt, analysiert auch der Politologe Wolodimir Fesenko auf seiner Facebook-Seite. Nach dem Ausbleiben militärischer Erfolge im Krieg gegen die Ukraine sei Putin nun auch gegenüber der Wagner-Armee eingeknickt, habe diese nicht, wie angekündigt, mit Gewalt ausgeschaltet, sondern sei in Verhandlungen auf einen Kompromiss eingegangen. Und da dieser Kompromiss wohl von Alexander Lukaschenko und dem Putin-Vertrauten Alexej Djumin ausgehandelt wurde, stehe die Frage im Raum, wozu man dann Putin überhaupt brauche, so Fesenko. »Schwache Zare liebt man in Russland nicht.«

Gleichwohl sei der eigentliche Verlierer die Wagner-Armee, so Fesenko. Diese könne man mitsamt ihrem Anführer Prigoschin nun »vergessen«. Er gehe davon aus, dass in Russland Privatarmeen bald ein Tabu seien. Lediglich Ramsan Kadyrow, Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien, werde weiterhin erlaubt sein, sich seine eigene Miliz zu halten.

Auf den ersten Blick hat der Aufstandsversuch von Jewgenij Prigoschin und seiner Wagner-Truppe Putins Macht eher noch mehr stabilisiert, analysiert das ukrainische Portal »strana.news« auf seinem Telegram-Kanal. Prigoschins »Staat im Staat« sei für die russische Führung eine Zeitbombe gewesen, die nun nicht mehr ticke. Prigoschin ist ins Exil verbannt, die Wagner-Privatarmee geschwächt, wenn nicht gar bald nicht mehr existent. Putin habe, ohne Truppen von der Front abzuziehen, ein sehr gefährliches Problem beseitigt und den Aufstand nicht militärisch, sondern politisch niedergeschlagen, was als kluger Schritt gewertet wird. Gleichzeitig hätten die Eliten und die Öffentlichkeit Putin an diesem kritischen Tag ihre Loyalität gezeigt: Niemand habe sich öffentlich auf die Seite von Prigoschin gestellt.

Die entscheidende Frage, so »strana.news«, sei jedoch eine andere: Hat Prigoschin auf eigene Faust gehandelt, oder stehen hinter ihm einflussreiche Angehörige der russischen Elite? Laut »strana.news« hat Prigoschin einen Aufstand angekündigt, und niemand hat das unterbunden. Im Gegenteil, der Staat habe ihn weiter mit Waffen versorgt, in den russischen Medien sei Prigoschin regelrecht verherrlicht worden. Das wiederum passe nicht in das Bild eines Einzelkämpfers.

Ob Putin tatsächlich geschwächt aus dieser Krise hervorgeht, wird sich an seiner Personalpolitik in den nächsten Tagen zeigen. Eine der Hauptforderungen von Prigoschin, so merkt das einflussreiche ukrainische Portal »nv.ua« an, sei die Forderung nach einem Auswechseln der Spitze der militärischen Führung Russlands. Noch ist Verteidigungsminister Sergej Schoigu im russischen Fernsehen zu sehen. Gleichwohl fordern russische Telegram-Kanäle einen Wechsel an der Spitze des russischen Verteidigungsministeriums.

Ukrainische Medien und Blogger richten ihren Blick auf einen Mann, der die größten Chancen hat, die Nachfolge von Sergej Schoigu anzutreten: der Gouverneur von Tula, Alexej Djumin. Djumin, in seiner Freizeit Torwart einer Hockey-Mannschaft, hat Putin lange Zeit als Sicherheitschef den Rücken freigehalten. Der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister und Sicherheitschef der russischen Regierung soll ebenfalls mit den Aufständischen um Prigoschin verhandelt haben, berichtet »nv.ua«. Er soll ihnen sogar versprochen haben, das »Thema Schoigu und Gerassimow zu lösen«, so das Portal weiter. Sergej Schoigu ist Verteidigungsminister, Waleri Gerassimow Chef des Generalstabes der russischen Streitkräfte.

Doch während »nv.ua« Djumin als Vertrauten Putins einordnet, gilt Djumin bei »strana.news« eher als Hintermann der Wagner-Armee. Und so sei es auch kein Zufall, so »strana.news«, dass ausgerechnet Telegram-Kanäle, die der Wagner-Armee nahestehen, den Namen von Alexej Djumin ins Spiel bringen. Diese anhaltende Kampagne für Djumin zeige, dass das Spiel, das zu einem Aufstandsversuch geführt hatte, noch nicht beendet sei, schlussfolgert »strana.news.«

Man solle den Blick nicht so sehr auf Jewgenij Prigoschin richten, meint Wolodimir Fesenko. Was sei eigentlich mit Dmitrij Utkin, fragt der Politologe. Dieser habe ja den Marsch auf Moskau organisiert. Die Antwort auf diese Frage sei wichtiger als die Spekulationen um den aktuellen Aufenthaltsort von Jewgenij Prigoschin. Der in der Ukraine geborene Utkin, bekannt unter dem Kampfnamen »Wagner«, Hitlers Lieblingskomponist, trägt eine Tätowierung der Sieg-Runen der Waffen-SS als Kragenspiegel und einen Reichsadler mit Hakenkreuz als Tätowierung auf der Brust. Er gilt auch als Gründer der Wagner-Privatarmee.

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