Ein ambivalenter Tyrann

Alexander Bätz über Nero zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 5 Min.

Er hat Bruder, Mutter und Ehefrau ermorden lassen. Den verheerenden, neun Tage lang wütenden Großbrand von Rom im Juli 64 n. Chr. hat er nicht zu verantworten. Und ob er systematisch Christen verfolgen ließ, ist zweifelhaft. Auf seinem Schuldkonto bleibt, dass er »Senatoren und Menschen seiner engsten Umgebung in den Tod getrieben hat«. Auf der Habenseite stehen: »Äußerer Frieden, wirtschaftliche Blüte und – für manchen – ein künstlerisch vielseitig interessierter Kaiser, der den Bestialitäten der römischen Arenen wenig abgewinnen konnte.«

Derart relativiert der Althistoriker und Altertumswissenschaftler Alexander Bätz in seiner großen Biografie das dunkle Bild Neros, der von 54 bis 68 n. Chr. römischer Kaiser war und »dessen Regierungszeit sicher viele düstere Seiten kennt«. »Aber sie hatte doch wohl mehr zu bieten als Orgien und Unmoral, Dekadenz, Brutalität und Willkürherrschaft.«

Als die römische Kaiserzeit mit Augustus glänzend begann, wechselte die staatliche Verfasstheit Roms nicht gleich vollständig von der Republik zum Prinzipat. Der Senat, die Konsuln und die Volkstribune bildeten neben dem letztentscheidenden Kaiser immerhin noch Machtzentren, die für eine mäßigende Gewaltenteilung sorgten. Innerhalb dieser Konstruktion entwickelt Bätz sein sehr differenziertes Bild von Nero einerseits anhand der römischen Historiker, die später über die Zeit Neros geschrieben haben. Das sind in erster Linie Tacitus in seinen leider nicht vollständig erhaltenen »Annales«, aber auch Sueton und Cassius Dio. Keiner von ihnen lässt ein gutes Haar an Nero noch an seiner von ihm selbst beseitigten Mutter Agrippina. Sie war eine Urenkelin des großen Augustus und Tochter des erfolgreichen Feldherrn Germanicus. Diese Wurzeln galten als unschlagbarer Nachweis der Legitimität von Neros Herrschaft. Er wurde schon als Heranwachsender »Princeps«, und zwar noch durch das Votum des Senats, des Volkstribuns und die Loyalität der Prätorianergarde.

Der Biograf bemüht sich, das in den missgünstigen römischen Quellen gezeichnete negative Bild Neros anhand von archäologischen Nachweisen, Widersprüchen in den Geschichtsschreibungen der Historiker aus der Zeit nach Nero sowie eigenen Schlussfolgerungen und überzeugenden Indizien zurechtzurücken. Er kommt dabei auf die unbestreitbaren Verdienste Neros bei der Bewerkstelligung der komplizierten Getreideversorgung und -zuteilung zu sprechen, auf große Investitionen im Hafen- und Straßenbau, auf erfolgreiche Feldzüge an den Rändern des Imperiums, beispielsweise im heutigen Armenien. Bätz beschreibt die hohe Zustimmung, die Nero in den einfacheren Volksschichten erfuhr, sowie die opportunistische Haltung der meisten Senatoren, die den Senat zu einem einfachen Zustimmungsgremium herabsinken ließen.

Auf der anderen Seite stehen Morde, die Nero in Auftrag gegeben hatte, unter dem Vorwand von Hochverrat oder ähnlichen Verbrechen, willkürliche Rechtsprechung sowie Liquidierung vermeintlicher oder tatsächlicher Rivalen durch heimtückisch verabreichtes Gift. Der Autor konstatiert, dass dies zu jenen Zeiten keineswegs außergewöhnlich war, denn auch während der Republik und seit dem Amtsantritt von Augustus, dem ersten Kaiser des römischen Imperiums, wurden unliebsame Menschen auf teilweise grausame Art ermordet oder in den Selbstmord getrieben. Zu Letzterem drängte bekanntlich Nero auch seinen einstigen, einflussreichen Lehrer Seneca.

Die Erzählung dieses außergewöhnlichen Herrscherlebens liest sich spannend und wird durch schön reproduzierte Bilder auf zwei Farbtafeln anschaulich ergänzt. Zum besseren Verständnis tragen eine Zeittafel und ein Stammbaum bei. Weiterführende Anmerkungen und eine umfangreiche Bibliografie machen das Buch zu einem Standardwerk über einen nicht nur mörderischen Herrscher.

Vom Vorwurf, den großen Brand von Rom selbst verursacht zu haben, spricht Bätz Nero mit überzeugender Beweisführung frei, vom Vorwurf der groß angelegten Verfolgung der Christen als Sündenböcke, angebliche Verursacher der Feuerbrunst nur teilweise. Da niemand in Rom in dieser frühen Zeit einen Unterschied zwischen Juden und Christen machen konnte, handelte es sich bei dem unbestreitbaren Massaker vielleicht um ein Pogrom, das erst Jahrhunderte später von christlichen Geschichtsschreibern in eine Repressionswelle gegen die frühen Christen umgedeutet wurde.

Breiten Raum in diesem Buch nimmt auch die Darstellung der künstlerischen Neigungen und Auftritte Neros ein sowie seine – vom römischen Adel als äußerst unschicklich missbilligte – sportliche Betätigung, die Beteiligung an Wagenrennen. Der Imperator spielte die Kithara, sang dazu, was eines Herrschers als unwürdig galt. Das einfache Volk aber begeisterte er mit seiner »Volksfesttauglichkeit«. Ein Populist. Parallelen dürfen durchaus gezogen werden, etwa mit einem fröhlich das Volkslied »Hoch auf dem gelben Wagen« trällernden ehemaligen Bundespräsidenten namens Walter Scheel.

Eine erste Verschwörung gegen Nero, seine lange Abwesenheit aus Rom durch einen 16-monatigen Aufenthalt in Hellas, wo er als »Schlagersänger« zu einem Olympiasieger gekürt wurde, und die sukzessive Abwendung etlicher Statthalter in den Provinzen des Imperiums von ihm waren Anzeichen des kommenden Endes seiner Regentschaft. In die Enge getrieben, beging Nero Selbstmord. Fortan wurde er nur noch als Gescheiterter, als mörderischer Tyrann erinnert, dessen positive Seiten nunmehr von Alexander Bätz um der historischen Gerechtigkeit willen gewürdigt werden. Dessen Fazit: »Nero bleibt eine höchst ambivalente Figur.«

Alexander Bätz: Nero – Wahnsinn und Wirklichkeit. Rowohlt, 576 S., geb., 45 €.

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