Haiti: Hilfeschreie bleiben ungehört

Menschenrechtler fordern eine politische Lösung statt militärischer Intervention

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Bürgerwehr Bwa Kale, deren Methode die Selbstjustiz ist, hat viele Unterstützer – Port-au-Prince im Mai dieses Jahres.
Die Bürgerwehr Bwa Kale, deren Methode die Selbstjustiz ist, hat viele Unterstützer – Port-au-Prince im Mai dieses Jahres.

Berlin, Brüssel, Paris: In diesen drei zentralen europäischen Hauptstädten werben Pierre Espérance und Rosy Auguste derzeit für eine zivile Lösung der haitianischen Krise. Die beiden aus Haiti stammenden Menschenrechtler wissen, wovon sie reden. Espérance ist Generaldirektor des Haitianischen Menschenrechtsnetzwerkes (RNDDH) und Auguste ist Programmdirektorin ebendieses Netzwerkes. Das Plädoyer für eine zivile Lösung kommt nicht von ungefähr, denn seit Monaten steht eine Militärintervention im Raum, für die auch UN-Generalsekretär António Guterres durchaus zu haben ist. Die von den USA im vergangenen Oktober im UN-Sicherheitsrat eingebrachte Resolution zur Entsendung einer »Eingreiftruppe« wurde zurückgewiesen, weil Russland und China sich dagegenstellten.

Bei seinem Besuch in Port-au-Prince am vergangenen Wochenende forderte Guterres angesichts eskalierender Kämpfe zwischen verfeindeten Gangs eine internationale Schutztruppe zur Unterstützung der Polizei in dem Karibikstaat. »Ich bin in Port-au-Prince, um meine uneingeschränkte Solidarität mit dem haitianischen Volk zum Ausdruck zu bringen und die internationale Gemeinschaft aufzufordern, Haiti weiterhin zur Seite zu stehen, auch mit einer robusten internationalen Truppe zur Unterstützung der haitianischen Nationalpolizei«, schrieb Guterres auf Twitter. »Dies ist nicht die Zeit, Haiti zu vergessen.«

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Auch Espérance und Auguste lassen bei ihrem Hintergrundgespräch Ende Juni in Berlin am Ernst der Lage keinen Zweifel: Bewaffnete Gruppen kontrollierten faktisch die gesamte Hauptstadt, sagt Espérance. »Sie können tun und lassen, was sie wollen.« Das liegt auch daran, dass die Banden in Port-au-Prince eng mit der politischen Elite verbunden sind. Ein Insider, Mathias Pierre, einst Minister für Wahlen und innerparteiliche Beziehungen in Haiti, sagte der Agentur Bloomberg, dass Teile der Regierung, Teile der Opposition und Mitglieder des Privatsektors die Banden seit Jahren finanzieren und mit ihnen »in Komplizenschaft« arbeiten würden. »Das ist es, was die Banden am Leben erhält«, erklärte er. Espérance und Auguste sehen das ähnlich und halten eine militärische Intervention für »rein kosmetisch«, wenn sie sich nur um ein Ende der Ganggewalt kümmere.

Espérance sieht eine Verschärfung der haitianischen Lage seit 2018. Im November jenes Jahres hatte der Oberste Rechnungshof Haitis festgestellt, dass 15 ehemalige Regierungsfunktionäre für soziale Zwecke eingeplante Gelder veruntreut hätten. Dabei handelt es sich um 3,8 Milliarden US-Dollar aus dem Sozialfonds von Petrocaribe. Bei diesem, noch von Venezuelas verstorbenem Präsidenten Hugo Chávez initiierten Projekt lieferte Venezuela Öl zu Vorzugspreisen an bedürftige karibische Länder, um Spielraum für Sozialpolitik zu schaffen.

Die Veruntreuung fand zwischen 2008 und 2016 statt und soll vor allem unter Präsident Michel Martelly (2011 bis 2016) Höchststände erreicht haben. Der Oberste Gerichtshof ermittelte, dass auch Martellys Nachfolger und Parteifreund Jovenel Moïse selbst Geld veruntreut haben soll. Bis heute ist die Veruntreuung von Mitteln aus dem Petrocaribe-Sozialfonds nicht aufgeklärt, obwohl es die Zivilgesellschaft vehement einfordert und unzählige Male deswegen auf die Straßen gegangen ist – von den internationalen Medien weitgehend ignoriert.

International Schlagzeilen machte hingegen der Mord an Präsident Jovenel Moïse am 7. Juli 2021. Er wurde in seinem eigenen Zuhause von kolumbianischen Söldnern ermordet, die sich als Mitarbeiter der US-Drogenbekämpfungsbehörde Dea ausgegeben hatten. Haiti ist ein wichtiges Transitland für Drogen. Die Verbindungen zwischen Ex-Militärs, Politikern und den Drogenbossen sind bekanntermaßen eng; auch Moïse wurden immer wieder enge Verbindungen zu kriminellen Banden nachgesagt, belegt ist das freilich nicht.

In Haiti regiert seitdem Ariel Henry als Ministerpräsident, er wurde noch von Moïse kurz vor dessen Ermordung ernannt. Henry gilt aber selbst als ein möglicher Hintermann des Mordes. Besonders im Zwielicht steht der seitdem untergetauchte Joseph Félix Badio, der früher eine Antikorruptionseinheit im Justizministerium geleitet hatte. Von Badio, sagten die Söldner, sei der Befehl gekommen, alle im Haus umzubringen. Und laut RNDDH hat ausgerechnet Premierminister Ariel Henry am Abend des Attentats sowohl mit Badio als auch mit dem Präsidenten telefoniert. Henry bestreitet das bis heute.

»Ariel Henry regiert wie ein Alleinherrscher«, kritisiert Espérance. Seine Regierung habe Haiti erst recht ins Chaos gestürzt. Espérance kann nicht nachvollziehen, dass die UN die Henry-Regierung stützt. Auch Guterres traf sich bei seinem Besuch Anfang Juli mit Premierminister Ariel Henry.

Wie Espérance sieht auch Auguste das Vorgehen der UN mit großer Skepsis: Den Vereinten Nationen sei es in 13 Jahren Stabilisierungsmission Minustah nicht gelungen, rechtsstaatliche Institutionen zu stärken, die Straflosigkeit und Korruption einschränken könnten. Eine erneute Intervention drohe diesen Fehler zu wiederholen. Ohne die politische Krise zu lösen, ohne die Korruption und die Unsicherheit in den Griff zu bekommen, sei jede Intervention zum Scheitern verurteilt, ist Auguste überzeugt. Zumal Haiti leidvolle Erfahrungen mit Militäreinsätzen gemacht habe: 1915 und 1994 intervenierten die USA und 2004 auf Betreiben der USA die Uno mit Minustah, die bis 2017 andauerte. Was die Interventionen eint: Sie haben weder Sicherheit noch Stabilität gebracht.

Haitis Bevölkerung wehrt sich inzwischen militant gegen die Ganggewalt. Auguste verweist auf die neu entstandene Selbstjustiz- und Bürgerwehrbewegung Bwa Kale, was in etwa geschältes Holz heißt und einen Aufruf zur Verbrecherjagd umschreibt. Die lenkte kurz die Aufmerksamkeit der internationalen Medien auf Haiti. Am 24. April hatte die Polizei in der Hauptstadt Port-au-Prince 14 mutmaßliche Mitglieder der sogenannten Ti-Makak-Gang verhaftet. Passanten zerrten die Gangmitglieder aus dem Polizeiauto, verprügelten sie, wuchteten Reifen auf sie, kippten Benzin darüber – und verbrannten sie bei lebendigem Leib. Es war der Beginn der Bwa-Kale-Bewegung; seitdem kam es immer wieder zu ähnlichen Aktionen, bei denen Gangmitglieder verstümmelt oder ermordet wurden.

Ein Ergebnis dieser Selbstjustiz ist nach Angaben des haitianischen Zentrums für Menschenrechtsanalyse und -forschung CARDH ein drastischer Rückgang der Entführungen. Eine Lösung ist die Selbstjustiz freilich nicht, ein Ausdruck der Verzweiflung der Bevölkerung sehr wohl. »Es ist eine Gewaltspirale, die nicht hilfreich für die Gesellschaft ist«, sagt Auguste. Sowohl die Gang- als auch die Bwa-Kale-Mitglieder seien sehr jung. Als Menschenrechtsverteidiger würden sie an Bwa Kale appellieren, die Gangmitglieder nicht nach ein, zwei Fragen einfach zu töten.

Auguste sieht die Bürgerwehrbewegung als Reaktion auf fehlende funktionierende staatliche Institutionen: »Es gibt weder Gerechtigkeit noch Rechenschaftspflicht in Haiti.« Im Prinzip sei die Polizei die einzige Kraft, auf die man setzen könne, um Sicherheit zu erreichen, sagt Auguste. Dafür müsse sich aber viel ändern. Bisher landete Ausrüstung für die Polizei oft bei den kriminellen Banden, die sich teils auch aus Polizisten rekrutierten. »Es bedarf einer funktionsfähigen Polizei. Sie muss entsprechend ausgerüstet werden, damit sie ihre Arbeit machen kann, und dann muss ihr Vertrauen entgegengebracht werden.«

Um Haitis Entwicklung in eine positive Richtung zu lenken, bedarf es aus Sicht von Auguste vor allem der Rechenschaftspflicht und eines Endes der Korruption. In der Pflicht sieht sie da nicht zuletzt auch die sogenannte Core Group, in der unter anderem die Vereinten Nationen, die USA, Kanada, Frankreich und auch Deutschland vertreten sind. Die Core Group stützt die Regierung Henry, die kein Mandat vom Wähler hat. Das Parlament ist seit dem 13. Januar 2020 nicht mehr funktionsfähig – Neuwahlen stehen seit 2018 aus. Auch die Amtszeit des ermordeten Präsidenten Moïse wäre im Februar 2022 abgelaufen, ohne einen absehbaren Termin für neue Präsidentschaftswahlen.

Derzeit teilen sich die haitianische Politikelite und das organisierte Verbrechen, mit dem ein Teil der Elite eng verzahnt ist, die Macht zulasten der Bevölkerung. »Ich will nicht sagen, dass die internationale Gemeinschaft verantwortlich für die Probleme in Haiti ist«, sagt Espérance, »aber sie ist Teil des Problems, sie hat Geldverschwendung und Korruption in Haiti begünstigt.« Auf tatkräftige Unterstützung für ihre Forderungen nach einem Ende der Straflosigkeit und nach einer Rechenschaftspflicht durch die Core Group wartet die haitianische Zivilgesellschaft seit Jahren vergeblich und fragt sich mit wachsender Verzweiflung, warum. Espérance und Auguste wollen das in Berlin, Brüssel und Paris mit Nachdruck zur Sprache bringen. Gehör werden sie finden. Ob dem Taten folgen werden, da lehrt die Vergangenheit Skepsis.

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