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»Wir hinken immer noch 50 Jahre dem Männerfußball hinterher«

Fußball-Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg über die erste Frauen-WM 1991, die nicht so einfache Vorrunde 2023 und ihr bewegtes Privatleben

  • Interview: Frank Hellmann
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Fans haben die deutschen Fußballerinnen schon begeistert. TV-Sender und Sponsoren verweilen aber noch bei den Männern.
Die Fans haben die deutschen Fußballerinnen schon begeistert. TV-Sender und Sponsoren verweilen aber noch bei den Männern.
Interview

Martina Voss-Tecklenburg, 55, bestritt 125 Fußball-Länderspiele und wurde viermal Europameisterin. Als Trainerin arbeitete sie in ihrer Heimat Duisburg und Jena, bevor sie 2012 das Schweizer und 2018 das deutsche Frauen-Nationalteam übernahm. Bereits mit 25 brachte sie während ihrer aktiven Zeit Tochter Dina zur Welt. Danach war sie mit Mitspielerin Inka Grings liiert, die nicht geräuschlose Trennung führte zu ihrem Rauswurf aus dem Nationalteam. 2009 heiratete sie den Bauunternehmer Hermann Tecklenburg.

Erst 1991 gab es die erste Weltmeisterschaft für Fußballerinnen. Sie waren in China als Spielerin dabei. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Nach einer EM, die wir 1989 gewonnen hatten, war die erste WM der nächste logische Schritt. Und ein Meilenstein mit vielen positiven Erlebnissen. Bei einem Training saßen auf einmal 6000 Chinesen im Stadion, um uns anzufeuern – wir wussten gar nicht, warum sie da waren, aber es war schön. Übrigens war auch Pelé dabei, der sagte, dass die Nummer sieben bei den Deutschen eine gute Spielerin ist. Das war ich. (lacht)

Trotzdem verlor Deutschland das Halbfinale mit 2:5 gegen die USA und das Spiel um den dritten Platz gegen Schweden mit 0:4.

Es war ein großartiges Halbfinale mit einem Aha-Effekt für mich: Du spürst als Spielerin recht schnell, ob du noch irgendetwas bewegen kannst, aber dafür waren uns die Amerikanerinnen auch physisch viel zu überlegen. Im Spiel um Platz drei war dann die Luft raus. Ich bin da böse auf die Schulter gefallen und mit Schmerzen zurück in die Heimat geflogen. Die WM war unheimlich anstrengend, und ich hatte noch nie so viel Muskelkater, weil wir gefühlt jeden zweiten Tag gespielt haben, darauf aber gar nicht vorbereitet waren.

Vier Jahre später erreichten Sie in Schweden mit der DFB-Auswahl dann immerhin das WM-Finale ...

... und haben dann in einer Wasserschlacht gegen Norwegen verloren, weil ein Schuss von Hege Riise reingerutscht ist (Endstand 0:2, Anm. d. Red.). Eigentlich war es mehr Wasserball als Fußball, sodass wir unsere spielerischen Qualitäten nicht einbringen konnten. Ich erinnere mich an diese ersten Turniere wirklich mit einem Lächeln, auch wenn manches vielleicht amateurhaft anmutete.

Nun kommt eine WM in Australien und Neuseeland, die der Weltverband Fifa erstmals mit 32 Nationen ausspielen lässt. Ist das Niveau bei den Frauen überall schon so weit?

Das weiß ich auch noch nicht so richtig, weil es ein paar Nationen mit sportlichem Nachholbedarf gibt. Die Fifa ging schon 2019 in Frankreich auf 24 Teams hoch, und wir hatten vor vier Jahren schon heftige Resultate mit einem 13:0 (Weltmeister USA gegen Thailand im ersten Gruppenspiel, Anm. d. Red.). Es wird sich zeigen, ob dieser Schritt vielleicht zu früh kommt. Andererseits liegt in einer Teilnahme für jedes Land auch die Chance, eine Entwicklung einzuleiten, um den Frauen- und Mädchenfußball zu fördern.

In Ihrer Vorrundengruppe ist kein namhafter Gegner dabei. Doch haben die holprigen Testspiele gegen Vietnam (2:1) und Sambia (2:3) gezeigt, dass die WM kein Selbstläufer wird. Fühlen Sie sich jetzt in Ihren Warnungen bestätigt?

Ich warne, weil diese drei komplett unterschiedlichen Teams keine Gegner sind, die man bei einer WM mal eben so besiegt: Marokko ist Neuling und wird im Premierenspiel gegen Deutschland gleich alle Emotionen auf den Platz bringen. Kolumbien ist mit seiner Zweikampfhärte und Mentalität ein richtig gutes Team, das den offenen Schlagabtausch sucht. Sie haben viel investiert, waren nicht umsonst bei Nachwuchsturnieren gut dabei und haben in einem Testspiel gegen Frankreich 2:0 geführt (Endstand 2:5, Anm. d. Red.). Und zum Schluss haben wir noch Südkorea: ein technisch gutes Team mit Trainer Colin Bell, der den deutschen Fußball mit all seinen Facetten gut kennt.

Sie beziehen in Wyong ein abgelegenes Quartier rund 90 Kilometer nördlich von Sydney. Ist die Gefahr des Lagerkollers so weit ab vom Schuss nicht zu groß?

Dieses Team hat doch genau die Stärke, keinen Lagerkoller zu empfinden. Fakt ist, dass wir am Tag vor jedem Spiel in einem Transferhotel sein werden – und damit direkt in Großstädten wie Melbourne, Sydney oder Brisbane. Und wir haben vorher die Spielerinnen gefragt, was ihnen wichtig ist. Als erste Antwort kommt immer: ein kurzer Weg zum Trainingsplatz. Das ist die absolute Priorität. Wir haben uns viele Unterkünfte in den Metropolen angesehen, in denen es dann keine Rückzugsorte gab. Also mussten wir Kompromisse finden. Ich denke, wir haben ein Quartier mit vielen Vorteilen, aber auch einigen Nachteilen.

Bei der EM 2021 agierten Ihre Spielerinnen, frei von Erwartungsdruck, sehr erfolgreich. Wird der Rucksack nun zu schwer, wenn Sie selbst vom Titel sprechen?

Wir wollen mit den Aufgaben wachsen. Aber natürlich macht es etwas mit einem, wenn man mehr zu verlieren hat, als zu gewinnen. Ich will uns bestimmt kein Alibi geben, aber bei dieser WM melden acht, neun Nationen berechtigte Ansprüche auf den Titel an – und diese Qualität haben wir auch.

Seit der EM werden Länderspiele zur Primetime übertragen. Es kommen teils mehr als 30 000 Zuschauer, der Besucherschnitt in der Bundesliga wurde verdreifacht. Glauben Sie, der Effekt ist nachhaltig?

Ich habe das erste Mal das Gefühl, dass sich alles zusammenfügt, dass ein stabiles Fundament entstanden ist. Wir kommen aus kleinen, teils reinen Frauenvereinen, aber jetzt haben wir große Lizenzklubs, in denen die Frauenabteilungen teilweise auf einem richtig guten Niveau integriert sind. Dieses Rad wird nicht zurückgedreht. Die Zuschauer kommen gerne zu uns, weil es auch eine andere Atmosphäre ist, familiär und nah; aber herausragende Leistungen bleiben die Basis. Wenn die Spielerinnen in den Vereinen und in der Nationalmannschaft nicht auf dem Platz so gut agiert hätten, wären die Leute nicht gekommen. Aber natürlich haben wir immer noch ganz viele Themen, die nicht selbstverständlich sind. Sonst hätten wir uns nicht so lange über eine TV-Übertragung einer Frauen-WM unterhalten: Im Männerfußball hätte es diese so lange ungeklärte Situation nicht geben. Daran sieht man: Wir hinken immer noch 50 Jahre dem Männerfußball hinterher. Wir haben in kurzer Zeit sehr viel erreicht, aber wir haben immer noch viel an der Basis zu tun, wenn ich an die Talentgerechtigkeit oder die weitere Professionalisierung in unseren Ligen und unseren Vereinen denke.

Der Boom geht auch darauf zurück, dass die Protagonistinnen als authentisch wahrgenommen werden. Sie gehen als Vorbild voran und lassen in einer NDR-Dokumentation Ihren Ex-Freund Jürgen Krust, Ihre ehemalige Lebensgefährtin Inka Grings, Ihren Ehemann Hermann Tecklenburg und Ihre Tochter Dina zu Wort kommen. Wollten Sie zeigen, dass die Welt bunter ist, als viele denken?

Ich habe in diesem ganzen Prozess gar nicht so sehr darüber nachgedacht, wie das andere sehen. Ich bin eben ein sehr offener Mensch, der mehrheitlich zu dem steht, was er in seinem Leben tut. Ich bin stolz darauf, dass ich sowohl mit Jürgen als auch mit Inka oder heute mit meinem Mann Hermann respektvoll und freundschaftlich umgehe, obwohl wir unterschiedliche Lebenswege gegangen sind. Auf diese Menschen kann ich mich jederzeit verlassen. Natürlich war es auch mal schwierig, aber wenn die Personen nicht wertvoll wären, hätte ich nicht diese Zeit mit ihnen verbracht. Ich wollte auch zum Ausdruck bringen, dass Türen woanders aufgehen, wenn sie sich an einer Stelle mal schließen. Neben der inneren Stärke braucht man dann Menschen, die einen auffangen, wenn es einem nicht so gut geht.

Die frühere Bundestrainerin Silvia Neid war in Bezug aufs Privatleben gegenüber den Medien nicht so offen wie Sie.

Das ist auch komplett in Ordnung.

Wie ist denn der Austausch mit der Leiterin der Abteilung Trendscouting im weiblichen Bereich beim Deutschen Fußball-Bund? Silvia Neid wurde als Co- und Bundestrainerin immerhin schon Weltmeisterin.

Vielleicht wäre es eine gute Idee, Silvia noch mitzunehmen – dann steigen unsere Chancen. (lacht) Sie unterstützt uns extrem darin, Trends im internationalen Fußball zu analysieren. Unser Austausch ist total hilfreich.

Sie sind jetzt schon fünf Jahre Bundestrainerin. Haben Sie darin Ihren Traumjob gefunden?

Ich bin superstolz, aber auch superprivilegiert. In dem, was ich am liebsten mache, darf ich so viel erleben – erst lange als Spielerin, jetzt als Trainerin. Trotzdem bin ich gut damit gefahren, mir gewisse Dinge offenzulassen, weil sich Lebenssituationen ganz schnell ändern können. Nehmen wir das Worst-Case-Szenario: Wir scheiden im WM-Achtelfinale aus, und die Leute machen sich Gedanken, ob Martina wirklich noch die richtige Bundestrainerin ist. Ich bin nicht naiv. Oder ich stelle in einigen Jahren fest, dass ich nicht mehr den gleichen Impuls geben kann. Die Dinge nutzen sich vielleicht auch mal ab. Da versuche ich wachsam zu bleiben. Ich kann nicht sagen, was kommt, wenn ich 60 bin. Derzeit stehe ich noch immer am liebsten auf dem Trainingsplatz. Vielleicht will ich bestimmte Dinge irgendwann aber gar nicht mehr. Ich habe auch noch ein Privatleben, das mir wichtig ist.

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