Klipp und klapp, Zungenbändchen ab

Mit fragwürdigen Methoden kassieren Stillberater, Osteopathen und Ärzte ab

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.
Früher ging man mit scharfem Werkzeug an die Daumen, heute erwischt es eher mal ein Zungenbändchen.
Früher ging man mit scharfem Werkzeug an die Daumen, heute erwischt es eher mal ein Zungenbändchen.
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Es ist nicht gut bestellt um die deutsche Gesellschaft. Sie ist zerrissen und gespalten. Gespräche über Weltanschauungen sind zum Minenfeld geworden. Man muss nicht mal ein großes Fass wie Klimawandel oder Migration aufmachen, um einen Krater in Beziehungen, Freundeskreise und Nachbarschaften zu reißen. Bisweilen genügt es, in einem Nebensatz zu erwähnen, dass man bei Prellungen Eisspray und medizinische Salben verwendet (statt Arnika-Kügelchen), und schon befindet man sich mitten in einer Grundsatzdiskussion über die Schulmedizin.

Diese hat – nicht ganz zu Unrecht – ein problematisches Image. Es wird zu viel und zu schnell operiert (weil OPs Geld in die Kassen der Krankenhäuser spülen). Auch bewegen sich die Methoden, mit denen Pharmakonzerne Ärzte von Medikamenten »überzeugen«, am Rande des Erlaubten, bisweilen auch jenseits davon.

Außerdem ist da noch das leidige Thema Nebenwirkungen. Schulmedizin heißt: kein Nutzen ohne Schaden. Chemotherapie zerstört den Krebs, aber auch das Immunsystem. Und wer zur Hypochondrie neigt, sollte die Beipackzettel besser ungelesen zum Altpapier geben. Da ist von Herzrasen über allergische Schocks bis Nierenversagen so ziemlich alles vertreten. Auch wenn sich die Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse vielfach im Nanobereich bewegt, so besteht doch die Möglichkeit, dass es passiert – eine Art negatives Lotto.

Da hat es die Alternativmedizin leichter. Sie braucht keine Beipackzettel, sondern nur Patienten, die an die Wirkung von Lösungen und Mineralsalzen in homöopathischer Dosierung glauben. Die Diskussion, ob Globuli durch ihren Inhaltsstoff oder den Placeboeffekt helfen, wird man wohl noch in Jahrzehnten führen. Aus dieser Grauzone des Wissens hält sich der Staat lieber heraus. Während ein Arzt, bevor er zugelassen wird, hohe Hürden zu überwinden hat (Abiturnote, die dem Numerus clausus gerecht wird, mindestens sechs Jahre Studium plus fünf Jahre Ausbildung zum Facharzt), ist der Weg zum Heilpraktiker ein vergleichsweise entspannter Trip. Hauptschulabschluss und Führungszeugnis genügen, um zu einer privaten Ausbildung zugelassen zu werden. Diese dauert in der Regel nur ein bis zwei Jahre und endet mit einer Prüfung beim Gesundheitsamt.

Noch einfacher haben es jene, die eine Tätigkeit anstreben, bei der nicht mal die Berufsbezeichnung geschützt ist. »Berater« darf sich jeder nennen, der über irgendeine Kompetenz (und sei es nur eine eingebildete) verfügt. Davon profitiert nicht zuletzt ein Bereich, in dem selbst Menschen mit bescheidenen finanziellen Mitteln weniger genau aufs Geld schauen: das Wohlergehen des eigenen Babys. Da gibt es Trage-, Stoffwindel-, Still-, Beikost- und Schlafberaterinnen – um nur die wichtigsten zu nennen.

Es ist ein einträgliches Geschäftsfeld. Wann immer Hebammen und Kinderärzte nicht weiterwissen, schlägt die Stunde der Spezialisten. Dann treten Beraterinnen und Säuglingsosteopathen auf den Plan. Hierbei ist ein psychologischer Aspekt nicht unwichtig. Eltern oder Mütter, die sich an Spezialisten wenden, sind verunsicherte, bisweilen verzweifelte Menschen: Warum kann das Neugeborene nicht schlafen? Wieso schreit es so viel? Weshalb klappt es mit dem Stillen nicht? In einer solchen Situation wird nach jedem Strohhalm gegriffen. Da schluckt man sogar Aussagen wie die eines Osteopathiezentrums in Brandenburg, das kategorisch feststellt: »Es empfiehlt sich, jeden Säugling in den ersten Wochen nach der Geburt osteopathisch behandeln zu lassen.«

Ein solcher Satz ist die Lizenz zum Gelddrucken. Denn die Eltern gehorchen. Die gesunde Skepsis, die man beim Gebrauchtwagenkauf an den Tag legt, ist, wenn’s ums eigene Kind geht, von vornherein ausgeschaltet: Es muss gut sein, schließlich kostet es viel! Die Faustformel für Honorare in der Neugeborenen-Behandlung lautet: eine Minute mal zwei Euro. Da werden für 40 Minuten Säuglingsosteopathie oder Stillberatung mal eben 80 Euro fällig (die man natürlich aus eigener Tasche bezahlen muss).

Und falls mal Flaute auf dem Markt herrscht? Dann erfindet man ein Leiden. Das Pharma-Medizin-Kartell hat vorgemacht, wie’s geht: Es schraubte die Normalwerte beim Cholesterin derart weit nach unten, dass über Nacht jeder Zweite unter vermeintlich zu hohem Cholesterinspiegel litt und der Behandlung bedurfte. In der Folge boomten cholesterinsenkende Medikamente und Nahrungsergänzer. Ja, selbst Margarinehersteller warben plötzlich damit, dass ihr Streichfett den Cholesterinspiegel reduziere.

Auch in der Alternativmedizin für Säuglinge gibt es solche imaginären Gebrechen. Trendsetter auf diesem Gebiet ist das Zungenbändchen. Hierbei handelt es sich um ein Häutchen, das die Zunge mit dem Mundraum verbindet. Ist es zu kurz, fällt es Säuglingen schwerer zu saugen. Später kommen Probleme beim Schlucken von Brei und beim Spracherwerb hinzu. Laut der »Apotheken-Umschau« kommen zwischen 2 und 15 Prozent aller Babys mit einem zu kurzen Zungenbändchen auf die Welt. Geht es noch unpräziser? Jedes Meinungsforschungsinstitut, das mit solchen Zahlen an die Öffentlichkeit ginge (Jeder Sechste, vielleicht auch nur jeder Fünfzigste würde die FDP wählen), wäre der Lächerlichkeit preisgegeben.

Doch genau diese Schwankungsbreite macht es Stillberaterinnen leicht, Eltern zu beeinflussen. Wo niemand Genaueres weiß, ist es einfach, Angst zu erzeugen. Am besten geschieht dies im Team. Im Rhein-Main-Gebiet sind mehrere Fälle bekannt geworden, in denen Stillberaterinnen ein verkürztes Zungenbändchen »diagnostizierten« (Kosten: 90 Euro) und die Mütter an Osteopathen für Kinder verwiesen. Diese bestätigten den Befund (Kosten: 100 Euro), rieten zur Durchtrennung des Bändchens und nannten den besorgten Müttern Adressen von hierauf spezialisierten Arztpraxen. Die Kosten für diesen Eingriff liegen bei 400 bis 700 Euro. Das klingt nach einem lukrativen Geschäftsmodell. Vor allem ist es ein risikoloses. Jene Eltern, die üppige dreistellige Summen ausgeben, werden nie erfahren, ob sich das Stillproblem nicht von allein gelöst hätte.

Die Chance hierfür ist groß. Wer sich die Mühe macht, eine zweite Meinung einzuholen (am besten bei Kinderärzten, die solche Eingriffe nicht durchführen), erfährt häufig, dass sein Säugling zu jenen 98 Prozent (oder vielleicht auch 85 Prozent) gehört, deren Zungenbändchen eine normale Länge hat. So wie die meisten Menschen einen normalen Cholesterinspiegel hatten, bevor die Industrie diesen Markt entdeckte.

Daher wird das Skalpell auch in den kommenden Jahren vermehrt zum Einsatz gelangen. Der Nutzen mag in vielen Fällen fragwürdig sein, der Umsatz ist es nicht. Die Zusammenarbeit von Stillberaterinnen, Osteopathen und Ärzten in Sachen Zungenbändchen zeigt: Wenn es um Geld geht, verstehen sich Alternativ- und Schulmediziner prächtig. Vielleicht liegen die beiden Welten ja doch nicht so weit auseinander. Was ja mal eine gute Nachricht wäre.

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