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»Vier Mütter für Edward«: Vier Dauerwellen für ein Halleluja
Darren Thornton inszeniert »Vier Mütter für Edward« als herzerwärmendes Generationenporträt
Ich ertrag’s einfach nicht mehr. Alles, was sie will, ist rauchen und Fernseh’ glotzen» beschwert sich Colm, der rund um die Uhr seine betagte Mutter Jean pflegt, bei seinen Freunden, die im gleichen Boot sitzen. Maude, die Mutter von Billy schleicht sich ständig bei Totenwachen fremder Leute ein, während Edwards Mutter Alma, durch einen Schlaganfall ihrer Stimme beraubt, trotzdem keine Schwierigkeiten hat, ihren Sohn mittels Sprach-App auf dem iPad herumzukommandieren – mit der Autorität einer irischen Matriarchin im digitalen Zeitalter.
Darren Thornton und sein Bruder und Mitautor Colin wissen, wovon sie erzählen. Als ihr erster Film «A Day for Mad May» herauskam, entschieden sie sich kurzerhand, wieder ins Elternhaus zurückzukehren, um ihre zum Pflegefall gewordene Mutter zu betreuen – auch sie musste fortan per Tablet kommunizieren. Wie es der Zufall wollte, erhielten sie kurz darauf das Angebot, die italienische Erfolgskomödie «Das Festmahl im August» von Gianni di Gregorio zu adaptieren. Die Grundidee blieb erhalten, aus Rom wurde Dublin und dieses Mal sind es drei schwule Freunde, die ihre Mütter bei dem stets hilfsbereiten Edward abladen, um sich ein paar Tage auf der Maspalomas Pride auf Gran Canaria zu vergnügen.
Berührend ist zu beobachten, wie sich die Frauen auf dieser Reise vorsichtig öffnen.
Edwards Mutter wird von der großartigen irischen Schauspielerin Fionnula Flanagan verkörpert, die zuletzt als Großmutter in «Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds & Snakes» zu sehen war. Beeindruckend, wie sie – ihrer Stimme als Ausdrucksmittel beraubt – allein durch Mimik, Körpersprache und eindringliche Blicke dieser komplexen Rolle Tiefe verleiht.
Auch die übrigen Mütter sind mit Dearbhla Molloy als mürrische Jean, Stella McCusker als spießige Maude und Paddy Glynn als ehemals alleinerziehende Rosey – der Mutter von Edwards Therapeuten – exzellent besetzt. Eigensinnig und fordernd sind sie alle, keine Frage. Doch zugleich voll trockenem Humor und Lebensklugheit.
Und so hat der Mitdreißiger Edward alle Hände voll zu tun. Dabei ist sein Coming-of-Age-Roman auf Tiktok gerade viral gegangen und er steht endlich kurz vor seinem literarischen Durchbruch. So setzt ihn auch sein Verlag gehörig unter Druck, die Gunst der Stunde zu ergreifen und auf Lesereise nach Amerika aufzubrechen. Dafür müsste er aber seine Mutter vorübergehend in einem Pflegeheim unterbringen – ein Schritt, zu dem sie, wie er nur allzu gut weiß, niemals ihre Zustimmung geben würde. Als wäre das nicht schon kompliziert genug, leidet Edward auch noch an Liebeskummer. Es ist ausgerechnet sein Ex-Freund Raf, der ihm mit den eigenwilligen Damen hilft. Eine schmerzhafte Konstellation – denn Edward hätte Raf gern zurück, doch der ist längst in einer neuen Beziehung.
Dennoch schiebt er die Entscheidung für die dringend anstehende Lesetour immer wieder hinaus, kümmert sich stattdessen um die diversen Frühstückswünsche seiner Betreuten und jagt zwischendurch Jean hinterher, als diese ausbüxt, um in einer schäbigen Karaoke-Bar mit schiefem Pathos «Wonderful Life» von Black zu singen.
Als sich seine Situation zuspitzt und sein Verlag ihm quasi die Pistole auf die Brust setzt, lässt er sich dennoch von den starrsinnigen Müttern zu einem kleinen Trip überreden. Ihr Ziel: Eine Séance bei einem Medium, das Kontakt zu ihren verstorbenen Ehemännern aufnehmen soll – alle machen mit, bis auf die alleinerziehende Rosey, die einfach Lust auf einen Roadtrip hat.
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Berührend ist zu beobachten, wie sich die Frauen auf dieser Reise vorsichtig öffnen – und darüber reden, wie sie die sexuelle Orientierung ihrer Söhne erst mit der Zeit akzeptieren konnten. Im katholisch geprägten Irland, wo Homosexualität erst 1993 entkriminalisiert wurde und die Ehe für alle erst 2015 per Volksentscheid eingeführt wurde, war das keineswegs selbstverständlich. Niamh Cusack amüsiert in dieser Séance-Sequenz als verschrobene Hellseherin – und als Edwards unterdrückte Wut auf seinen Vater sich während der Geisterbeschwörung plötzlich Bahn bricht, wird die eigentlich humorvolle Szene zum emotionalen Katalysator.
In einer Welt, in der Empathie eher kleingeschrieben wird, wächst dem Zuschauer der von James McArdle berührend verkörperte Schriftsteller Edward zunehmend ans Herz. Kein Wunder also, dass die Tragikomödie bei ihrer Weltpremiere auf dem London Film Festival 2024 mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Wie die störrischen, aber liebenswerten irischen Golden Girls erkennt man im Verlauf dieses warmherzigen Crowdpleasers, dass der unsichere Edward seine Mutter manchmal als Vorwand nutzt – um nicht den nächsten Schritt zu gehen.
Den schwierigen Balanceakt zu meistern, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, ohne die, die wir lieben, vor den Kopf zu stoßen – ist ein Dilemma, das nicht nur Edward bekannt sein dürfte: Man denke nur an die rund 7,1 Millionen Menschen in Deutschland, die tagtäglich aufopferungsvoll ihre Angehörigen pflegen – zerrissen zwischen Pflichtgefühl, Zuneigung und dem oft aufgeschobenen Wunsch, endlich auch mal wieder an sich selbst zu denken.
«Vier Mütter für Edward», Irland 2024. Regie: Darren Thornton. Mit: James McArdle, Fionnula Flanagan, Dearbhla Molloy. 89 Minunten, Start: 10. Juli
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