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- Kein Geld für Urlaub
Geschlossene Gesellschaft
Ein Index für Armut: Immer weniger Menschen in Deutschland können sich Urlaub leisten
Ich habe den ersten Schultag nach den Sommerferien immer gehasst. Nicht weil ich keinen Bock auf die Schule hatte, sie war eine Möglichkeit, vor der Enge von zu Hause zu fliehen. Mir graute vielmehr vor dem Moment, wenn Schulfreunde oder Lehrer mich fragten, wo ich in den Sommerferien war, vor allem in der Oberstufe. Ich sagte Barcelona, Rimini, Nizza. Städtenamen, die ich von Bürgerkindern hörte. Ich log, weil ich mich schämte, dass für mich keine anderen Orte außerhalb des Viertels und der Schule existierten. In Wahrheit verbrachte ich die Sommerferien in der Sozialbausiedlung, wo ich aufgewachsen war, umgeben von denselben Gesichtern, demselben Asphalt, derselben Einsamkeit und derselben Sonne, die uns im Nacken brannte, während sie anderswo die Kulisse für Sommernachtsträume abgab.
Klar, alle paar Jahre hockte ich mit meinen Brüdern auf der Hinterbank auf der dreitägigen Autoreise mit den Eltern in die Türkei, entlang der Schwarzmeerküste, in die ostpontischen Berge, ihr Geburts- und, was viel bedeutsamer war, ihr Jugendort. Durch das stundenlange Fahren schliefen unsere Beine ein – drei Tage, viertausend Kilometer, viel Gepäck. Die erste Woche war aufregend, die weiteren vier oder fünf, je nach dem vom Arbeitgeber zugebilligten Urlaub von Vater und Mutter, langweilig. Sommerferien, das waren für mich entweder Einübung sozialer Scham oder Langeweile in der Fremde, auf die mit der Rückkehr wieder Scham folgte. Natürlich erzählte ich meinen Mitschülern, dass ich an der Riviera war.
An diese Scham musste ich bei den veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamts denken. 2024 konnte sich jede fünfte Person keinen einwöchigen Urlaub leisten. 21 Prozent entsprechen 17,4 Millionen Menschen in einem der reichsten Länder der Welt. Bei Alleinerziehenden (38 Prozent) oder Paaren mit mehr als zwei Kindern (29 Prozent) sieht es noch härter aus, aber auch bei Alleinlebenden (29 Prozent). Diese Zahlen erinnerten mich an jene Scham, die mich in meiner Jugend zur Selbstverleugnung verdammt hat.
Diesen Sommer verdammt sie Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter, Arbeiterkinder, Arme, Jugendliche, Freunde, meine Klasse, in den uns zugewiesenen Sperrzonen auszuharren, während wir uns seit Amtseintritt der neuen Bundesregierung anhören müssen, dass wir noch mehr arbeiten, den Acht-Stunden-Tag als Anachronismus vergessen, uns die Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance abschminken sollen. Warum? Damit Friedrich Merz (CDU) und seine Klasse aus Geldsäcken, Privateigentümern, Spekulanten, Moralisten, Kriegstreibern und Schmarotzern sich die Taschen noch mehr füllen können. Was sie ohnehin schon tun. Siehe Jens Spahn, siehe Diätenerhöhung, siehe diese Wirtschaftsordnung.
Wer sich dieses Jahr keinen Urlaub leisten kann, mal wieder, sollte wissen, dass das politisch gewollt ist. Die kapitalistische Urlaubsumverteilung geht nicht anders als so, selbst in der drittgrößten Volkswirtschaft weltweit: Die Erholungszeit für den vom Kapital geschundenen Körper wirft keinen Profit ab. Nichts tun, neue Orte entdecken, Erfahrungen machen, anderen Menschen begegnen, all das wird 17,4 Millionen Arbeitern verweigert.
Für Urlaub soll kein Geld da sein, aber für Panzer und Sturmgewehre.
Ein Freund von mir hat das ganze Jahr nicht das Bergische Land verlassen. Er wird es auch nicht für einen einwöchigen Sommerurlaub tun können. Das kann er sich nicht leisten. Freunde von Merz mieten sich gleich ganz Venedig für ihre Hochzeit – oder feiern auf Sylt, wohin dieser als Pilot mit seinem Privatjet flog. Wo man auch hinsieht: geschlossene Gesellschaft.
Armut bedeutet auch Schwerkraft, bedeutet Erdanziehung, bedeutet, auf der Stelle treten müssen, bedeutet Wiederholung von Gewalt. Keinen Urlaub machen können, ist die erweiterte Not dessen, was Sozialwissenschaftler Mobilitätsarmut nennen. So ließe sich von Urlaubsarmut sprechen, gleich nach dem Trend der letzten Jahre mit dem Wort Armut Komposita zu kreieren: Kinderarmut, Altersarmut, Wohnungsarmut. Je nach angewandter Methode mag die Diversifizierung des Elends ergiebig sein, doch steckt dahinter auch ein Diskurstrick, der vielfach in den Medien ausgespielt wird.
Wer Teilbereiche der gesellschaftlich erzeugten Armut aus dem Kosmos der Armut herausschneidet, als selbstständiges Phänomen behandelt und Zutaten wie »Teilhabe« oder »Chancen« beimischt, der will nichts von den Armen wissen, nicht über Ausbeutung und nicht über den Klassenkampf von oben sprechen. Der täuscht vor, etwas dagegen zu tun, ohne etwas gegen die Armut zu tun. Der ist Helfershelfer. Aus Armut wird »einkommensschwach«, aus Armut wird »asozial«, aus Armut wird »Totalverweigerer« und »Selbst Schuld«. Die bürgerlichen Sprachspiele für die Demütigung der Unterdrückten treiben unzählige Blüten, wie die Debatte um Bürgergeld zeigt. Carsten Linnemann (CDU) will »an die Substanz«. Aus seinem Hass auf die Armen macht der CDU-Generalsekretär kein Geheimnis. So oder so, die Verelendung greift weiter um sich.
Der Punkt ist, dass die Politik und die Bürgerlichen auch kein Interesse haben, daran etwas zu ändern. Wer etwa wie die SPD im Wahlkampf 15 Euro Mindestlohn ab 2026 »garantiert« und nun sein »Versprechen« auf einen Sankt-Nimmerleinstag nach 2027 verlegt, gleichzeitig aber das Fünf-Prozent-Ziel der Nato mitträgt und einen Blankoscheck für Hochrüstung und Kriegsvorbereitungen ausstellt, der hat anderes im Sinn als einen Kampf gegen die Armut. Der bekämpft die Armen und die arbeitende Klasse. Der bekämpft meinen Freund und mich. Für Urlaub soll kein Geld da sein, aber für Panzer und Sturmgewehre.
Urlaub – das ist vor allem frei verfügbare Zeit, befreit von Alltag, Zwängen und Immergleichem, gar ein Ausblick auf das bessere Leben. Karl Marx schreibt im »Kapital«: »In der kapitalistischen Gesellschaft wird freie Zeit für eine Klasse produziert durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit.« Dieser Gedanke übersetzt nicht nur die Zahlen des Statistischen Bundesamtes, er buchstabiert vor allem auch meine Scham am ersten Schultag nach den Sommerferien. Der Kampf um Urlaub ist der Kampf um die Rückgewinnung unserer Lebenszeit, aus der die Reichen und Besitzenden ihre Freiheit formen und sie auf ihren Yachten und Privatinseln genießen. Das müssen wir nicht dulden.
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