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Silvia Neid: »Die WM wird super«

Die ehemalige Bundestrainerin über Trends, Favoriten und die Chancen der deutschen Fußballerinnen

  • Frank Hellmann
  • Lesedauer: 9 Min.
»Da sehe ich individuell eine hohe Qualität«, sagt Silvia Neid über Kolumbien. Der Gruppengegner der DFB-Frauen hat gute Aussichten auf ein Weiterkommen.
»Da sehe ich individuell eine hohe Qualität«, sagt Silvia Neid über Kolumbien. Der Gruppengegner der DFB-Frauen hat gute Aussichten auf ein Weiterkommen.

Interview: Frank Hellmann

Frau Neid, Sie leiten die Abteilung Trendscouting im Frauen- und Mädchenfußball beim Deutschen Fußball-Bund (DFB). Das hört sich danach an, als seien Sie noch häufiger auf Reisen als früher als Bundestrainerin?

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Meine Tätigkeit bedeutet tatsächlich, dass ich bei Champions-League-Spielen, bei Europa- und Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen unterwegs bin. Wir wollen sehen, was im Frauenfußball international passiert. Wo und wie entwickeln sich andere Teams weiter? Das fasse ich auch mit meinem Team für die WM in Australien und Neuseeland wieder zusammen. Mittlerweile gibt es viele Möglichkeiten, die Spiele zu verfolgen. Meine Software nennt sich »Wyscout«, womit ich alle Spiele über einen Scoutingfeed (einem Analysewerkzeug für Trainer, Anm. d. Red.) sehen kann. So werden wir das auch bei dieser WM machen.

Können Sie uns sagen, was Deutschland in einer Gruppe mit Marokko, Kolumbien und Südkorea erwartet?

Eigentlich ist das nicht explizit mein Aufgabengebiet, weil Marokko nicht zu den führenden Nationen gehört, die Trends setzt. Südkorea kennen wir besser, weil Colin Bell (seit 2019 Nationaltrainer von Südkorea, Anm. d. Red.) gerne mit seinen Teams sehr kompakt agiert. Aber auch diese Aufgabe ist sicher machbar. Wo wir gewarnt sein müssen, ist Kolumbien: sehr viele gute, technisch versierte Einzelspielerinnen. Da sehe ich individuell eine hohe Qualität.

Können Teams aus Südamerika bei der WM die Überraschung werden? Brasilien als möglicher deutscher Gegner im Achtelfinale hat beim Testspielsieg gegen Deutschland eine richtig starke Leistung geboten.

Bei Kolumbien wird es aus meiner Sicht nicht für mehr als für das Achtel- oder Viertelfinale reichen, aber Brasilien hat sich verbessert: Sie sind unheimlich zweikampfstark, total robust geworden und besitzen mittlerweile auch die entsprechende Fitness. Für mich machen sie einen sehr viel besseren Eindruck als in den vergangenen Jahren – sie erinnern fast an 2007, als sie auch schon so gut waren. (lacht)

Bei der WM 2007 unter Ihrer Regie hat Deutschland im Finale gegen Brasilien gewonnen, das Turnier wurde mit 16 Teams ausgetragen. Ist es richtig, diese WM mit 32 Teilnehmern auszuspielen?

Das ist aus meiner Sicht ein bisschen zu früh, aber das haben wir auch schon gesagt, als von 16 auf 24 Teams aufgestockt wurde. Ich glaube nicht, dass Haiti oder Panama schon so weit sind. Ich finde es nicht schön, wenn eine Mannschaft bei einer WM total überrollt wird, wie das 2019 passiert ist, als die USA so hoch gewonnen haben (13:0 gegen Thailand, Anm. d. Red.). Ich bin gespannt.

2007 war der 11:0-Kantersieg gegen Argentinien unter Ihrer Regie der Startschuss in ein furioses Turnier. Hatten Sie damals ein halbes Dutzend Persönlichkeiten wie eine Alexandra Popp zur Verfügung?

Nein, würde ich nicht unbedingt sagen. Wir hatten eine hohe Qualität mit einer Birgit Prinz, Sandra Minnert und Sandra Smisek, aber wir hatten vor allem einen guten Mix aus jüngeren und reiferen Spielerinnen. Das hat gut harmoniert. Uns hat dieser erste Sieg natürlich Selbstvertrauen gegeben, das zweite Spiel war ein 0:0 gegen England, danach haben wir noch gegen Japan 2:0 gewonnen.

Und dann wartete im Viertelfinale das Team aus Nordkorea, das einen maschinellen Fußball gespielt hat, oder?

Genau, das waren unsere großen Bedenken im Vorfeld. Nordkorea hatte bis dahin keine Schwäche gezeigt. Wir Trainerinnen haben lange gesucht, um den Spielerinnen überhaupt eine Schwäche zu nennen. Es unterstreicht unsere Effizienz, dass Kerstin Garefrekes uns in Führung gebracht hat. Wir haben diese schwere Aufgabe mit Effizienz im Angriff und hervorragender Defensive gelöst, weil Nadine Angerer schon da alles gehalten hat. Wir haben ja kein Gegentor bei diesem Turnier kassiert.

Vermutlich wird nie wieder jemand als Bundestrainerin so erfolgreich sein wie Sie. Unter Ihrer Regie gelang es, die WM 2007, die olympische Bronzemedaille 2008, die EM 2009 und 2013 und Olympia 2016 zu gewinnen. Der letzte Titel deutscher Fußballerinnen. Macht Sie das stolz?

Natürlich, weil ich das mit meinem Team und meinen Spielerinnen erreicht habe. Aber natürlich würde ich mich freuen, wenn die deutsche Frauen-Nationalmannschaft bald wieder einen Titel gewinnen würde. Dafür arbeite ich beim DFB und versuche immer noch Impulse zu geben.

Was würden Sie den Spielerinnen denn sagen, wenn Sie morgen einen Impulsvortrag halten müssten?

(lacht) Jedes Turnier hat seine eigenen Gesetze und jede Mannschaft ihre eigenen Charaktere. Wer braucht wann was? Mitunter kann da ein Satz schon helfen. Das hängt von den Persönlichkeiten der Spielerinnen ab. Dazu braucht es Fingerspitzengefühl. Und Führungsspielerinnen, die in jeglicher Hinsicht Verantwortung übernehmen. Es ist bei den Turnieren immer ein ganz schmaler Grat, ob es in die eine oder andere Richtung geht. Bei der EM 2022 hat mir das Engagement gefallen, total intensiv gegen den Ball zu arbeiten. Das hat mich sehr beeindruckt. Dieses Team hat die Menschen mitgerissen.

Die letztjährige Vize-Europameisterschaft hat einen Boom ausgelöst, der sich in die Liga übertragen hat. Überrascht Sie das?

Nach 2016 ist der Frauenfußball tatsächlich ein bisschen ins Hintertreffen geraten – wir haben nicht gut gespielt, sind 2017 bei der EM und 2019 bei der WM im Viertelfinale ausgeschieden, und dementsprechend fehlte uns bei diesen Turnieren die Sichtbarkeit. Das war dann eine Kettenreaktion. Im vergangenen Jahr hatten uns wenige auf dem Zettel. Zum Glück ist es jetzt immer noch so, dass der Frauenfußball aufgrund der Leistungen bei der EM in aller Munde geblieben ist. Die Rolle der Frau ist in der Gesellschaft ein wichtiges Thema, und im DFB sind nicht mehr nur zwei, sondern ganz viele Menschen für den Frauenfußball zuständig, an der Spitze Doris Fitschen, die für die Strategie Frauen im Fußball maßgeblich verantwortlich ist. Auch für mehr Sponsoren ist der Frauenfußball eine lohnende Investition geworden. Ich hoffe, dass es im Sommer so weitergeht und die Mannschaft sehr weit kommt.

Und despektierliche Äußerungen gibt es auch kaum mehr?

Vielleicht gibt es das noch, aber wir bekommen es nicht mehr so mit. Fußball wird als ein Sport für Männer und Frauen angesehen. Man sieht es auch an den Prämien, die von der Fifa ausgeschüttet werden – viel mehr als je zuvor. Ich freue mich total, dass den Spielerinnen dieser Respekt gezollt wird. Schon mit der WM-Teilnahme hat jede 30 000 Dollar sicher.

Und für den Gewinn der Weltmeisterschaft gibt es 270 000 US-Dollar. Sind Sie da nicht neidisch?

(lacht laut) Da bin ich nicht neidisch! Ich gönne es wirklich allen Spielerinnen. Das finde ich wichtig und richtig.

Was haben Sie als persönliche Erinnerungen an eine WM auf Knopfdruck parat?

Natürlich die erste WM 1991, weil ich mich gleich im ersten Spiel so verletzt habe, dass ich in dem Turnier gar nicht mehr spielen konnte. Gerne erinnere ich mich an 1995, wo wir leider nur Zweiter wurden. 2003 war dann natürlich ein wahnsinnig schönes Turnier, wo wir durch Nia Künzers Golden Goal erstmals Weltmeisterinnen wurden. Aber 2007 war für mich dann auch etwas Besonderes: erstmals selbst Cheftrainerin, dazu Titelverteidigerin und als i-Tüpfelchen noch zu null.

Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg hat öfter betont, dass Sie mit Ihrem Blick über den Tellerrand helfen würden. Wie ist der Austausch?

Wir telefonieren, aber wir sehen uns auch mal auf dem Campus. Es ist jedes Mal interessant, mit ihr über die Themen zu reden.

Sie ersparen sich aber gute Ratschläge?

Ja, aber wenn sie von mir etwas wissen will, sage ich das natürlich. Diese angesprochene Defensivlust war beispielsweise bei den Olympischen Spielen 2021 sehr auffällig, wo Kanada Olympiasieger wurde. Kein Mensch hätte das gedacht, aber sie haben es geschafft, mit ihrer guten Arbeit gegen den Ball zu gewinnen. Und deshalb sind auch wir 2007 Weltmeister geworden, weil sich die Gegnerinnen an unserer Abwehr die Zähne ausgebissen haben. Die Defensive ist bei den Turnieren das A und O.

Martina Voss-Tecklenburg ist als Bundestrainerin zu einer öffentlichen Person gereift, die zu fast jedem Thema etwas zu sagen hat. Hätten Sie ihr das so zugetraut?

Ja, denn Martina ist rhetorisch sehr stark, sehr interessiert – und sie weiß auch, dass es wichtig ist, sich zu gesellschaftspolitischen Themen zu äußern.

Sie können bestimmt auch sagen, wer 2023 Weltmeister wird? Wieder wie 2015 oder 2019 die USA, oder hat sich deren Stil überholt?

Sie müssen immer zu den Favoriten gezählt werden. Der Mix aus erfahrenen und jungen Spielerinnen gefällt mir, die technisch versiert und gut im Kombinationsspiel sind. Wir tun alle gut daran, die USA wieder auf dem Zettel zu haben.

Kann denn ein Superstar wie die US-Amerikanerin Megan Rapinoe mit 38 Jahren noch eine Weltmeisterschaft sportlich prägen wie 2019?

Das kann sie. Ich glaube nicht, dass sie jedes Spiel bestreitet, und sie wird auch nicht immer anfangen, aber sie ist der verlängerte Arm von Trainer Vlatko Andonovski. Sie ist eine so große Persönlichkeit, dass allein ihre Anwesenheit für die Mentalität der Mannschaft wichtig ist.

Die Bundestrainerin spricht von einem sehr großen Kreis von Titelanwärtern. Sie gehen da vermutlich mit?

Für mich gibt es Deutschland, die USA, Brasilien, Frankreich und England. Diese Mannschaften können allerdings schon ab der K.-o.-Phase aufeinandertreffen; das zeigt, wie anspruchsvoll der Weg ins Finale ist. Hinter Schweden steht ein Fragezeichen, weil sie ihr schnelles Umschalten von den Olympischen Spielen bei der EM nicht mehr gezeigt haben. Bei Spanien müssen wir sehen, wie sehr sie die Unruhen um den Trainer verarbeitet haben. Natürlich kann auch der Gastgeber Australien eine Welle erwischen.

Sie sind 2000 bei den Olympischen Spielen in Sydney als Co-Trainerin von Tina Theune-Meyer beim deutschen Team dabei gewesen. Auch wenn es über 20 Jahre her ist, was wird die Fußballerinnen aus aller Welt dort erwarten?

Sportverrückte, fröhliche Menschen, schöne Landschaften – und allein die Stadt Sydney ist beeindruckend. Die WM wird super werden. Es wird sicher ein bisschen anders sein, weil dort jetzt Winter ist, aber es wird dem tollen Fußball keinen Abbruch tun.

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Silvia Neid, 59, hat die Erfolgsgeschichte des deutschen Frauen-Nationalteams geprägt. Sie gewann als Spielerin dreimal die EM. In ihre Amtszeit als Bundestrainerin fallen ein WM-Titel, zwei EM-Siege und Gold bei den Olympischen Spielen 2016. Heute leitet sie beim DFB die Abteilung Trendscouting.

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