Celac-Treffen: Die schmutzige Seite von Europas Klimapolitik

Für ihre Energiewende brauchen die EU-Staaten massenhaft Rohstoffe. Die soll Lateinamerika liefern – und mit den Folgen des Abbaus zurechtkommen

  • Gerhard Dilger, Buenos Aires
  • Lesedauer: 9 Min.

Seit vier Wochen befindet sich die argentinische Andenprovinz Jujuy an der Grenze zu Bolivien im Ausnahmezustand. Zwölf Straßensperren haben die indigenen Gemeinschaften organisiert, alle drei Stunden dürfen die Reisenden passieren. Die Proteste richten sich unter anderem gegen eine im Eilverfahren durchgepeitschte Provinzverfassung, die die Vertreibung der Ureinwohner zugunsten von Lithiumprojekten erleichtert. Lithium ist ein weltweit gefragter Rohstoff für E-Autos, auch EU-Staaten suchen neue Bezugsquellen. Die Polizei geht brutal vor, am Mittwoch kam es erneut zu Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, Aktivisten werden kriminalisiert und eingeschüchtert. »Die Plünderung soll legalisiert werden,« heißt es im letzten Manifest der Demonstrant*innen gegen die Verfassung. »Wir sind die legitimen Besitzer dieses Landes.«

Der Gegensatz zu den vollmundigen Erklärungen bereits vor dem Gipfeltreffen von Staats- und Regierungschefs der EU und den Staaten Lateinamerikas und der Karibik am Montag und Dienstag könnte kaum größer sein. »Das Gipfeltreffen bietet eine hervorragende Gelegenheit, Vertrauen aufzubauen und den Beziehungen neue Impulse zu verleihen«, flötete der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell schon Anfang Juni, als er die neue Lateinamerika-Agenda der Europäischen Kommission vorstellte. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer verspricht sich »neue Wachstumsimpulse«.

Zusammen mit grünem Wasserstoff, der schon in wenigen Jahren von Argentinien und Chile, aber auch von Kolumbien oder Brasilien nach Europa verschifft werden soll, wird Lithium als Symbol der Energiewende gefeiert. Was der Rohstoffabbau für die Regionen bedeutet, gerät dabei aus dem Blick. Klar ist, dass Spitzenpolitiker*innen der EU und ihrer Mitgliedstaaten derzeit versuchen, der europäischen Wirtschaft Zugriff auf die Rohstoffe zu sichern. Kritiker*innen mutmaßen, dass es sich dabei um einen neokolonialen grünen Extraktivismus handelt, der Lateinamerika wie schon seit 500 Jahren seiner Bodenschätze beraubt: früher Gold, Silber und Zinn – heute »weißes Gold«, Wasser, Wind und Sonne. Was geschieht derzeit konkret und wie positionieren sich lateinamerikanischen Regierungen?

In Argentinien liegen zwei der drei Lithiumanlagen in Jujuy, doch Goldgräberstimmung herrscht auch in den Nachbarprovinzen. Dutzende weitere Projekte lagern in den Schubladen der Ministerien. Provinzfürsten, das ist ein offenes Geheimnis, verdienen prächtig mit. Das Leichtmetall gilt als Wunderwaffe für die Energiewende. Die Autoindustrie wird den Verbrennungsmotor durch Elektroantrieb ersetzen, für die Produktion einer Lithium-Ionen-Batterie für ein E-Auto braucht man unter anderem zehn bis 20 Kilogramm Lithiumkarbonat.

Europäische Politiker*innen sind in den vergangenen Monaten zu Scharen nach Lateinamerika gepilgert – eine beispiellose Charmeoffensive, bei der die Beschwörung »gemeinsamer Werte« nicht fehlen durfte. Ohne Ausnahme betonten die Gäste auch, die noch nicht fertig ausgehandelten Freihandelsabkommen der EU möchten doch bitteschön bis Jahresende unter Dach und Fach sein. Konkret geht es um den Vertrag mit den Mercosur-Ländern Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay, um den seit 1999 gerungen wird, und um die Modernisierung der Abkommen mit Chile und Mexiko.

Als Kanzler Olaf Scholz im Januar mit einer großen Wirtschaftsdelegation nach Argentinien und Chile reiste, machte er keinen Hehl aus dem Interesse deutscher Firmen am Lithium, versprach aber Hilfestellung beim Aufbau einheimischer Wertschöpfungsketten. Denn obwohl rund 60 Prozent der weltweiten Ressourcen in den andinen Salzseen des Lithium-Dreiecks Chile-Bolivien-Argentinien lagern, findet die Weiterverarbeitung zu Batterien bislang vorwiegend in China, Südkorea oder Japan statt.

Die Umweltkosten der »ökologischen« Verkehrswende

BMW, der einzige bedeutende deutsche Player im südamerikanischen Lithiumgeschäft, brüstet sich damit, »besonders nachhaltig« abgebautes Leichtmetall aus Argentinien zu beziehen. 2021 unterzeichnete der Münchener Autokonzern einen Vertrag mit dem US-Multi Livent über die Abnahme von Lithium im Wert von rund 285 Millionen Euro. Bislang konnten weder Livent noch BMW Indizien für einen enormen Süßwasserverbrauch und eine weitere Senkung des Grundwasserpegels am westlichen Rand der Provinz Catamarca entkräften. Alles deutet darauf hin, dass Livent langsam aber sicher das fragile Puna-Ökosystem und damit die Lebensgrundlagen der Lamabäuer*innen vor Ort zerstört – auf dass die »ökologische« Verkehrswende in Europa vorankommt.

Auch in Chile sind deutsche Firmen am Start: »Grünes Lithium« versprechen K-Utec Salt Technologies aus Thüringen und Aci Systems aus Baden-Württemberg, die in Santiago im Beisein des linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow einen Kooperationsvertrag über 500 Millionen Dollar mit einer chilenischen Firma abschlossen, EU-Subventionen inklusive.

Überhaupt ist Chile einer der bevorzugten Partner Europas, wie sich im Juni bei einem Besuch von Ursula von der Leyen zeigte. »Ohne Lithium keine Windkraftanlage, ohne kritische Rohstoffe keine Batterie. Deshalb haben wir uns darauf geeinigt, an einer strategischen Partnerschaft für nachhaltige Rohstoffe und für die gesamte Wertschöpfungskette zu arbeiten«, erklärte die Präsidentin der Europäischen Kommission in Santiago. Zudem kündigte sie einen Fonds für grünen Wasserstoff in Höhe von 225 Millionen Euro an, von denen 100 Millionen als Darlehen von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) kommen.

Diese Finanzierungsplattform solle »die Dekarbonisierung der chilenischen Wirtschaft fördern, grüne Arbeitsplätze schaffen, Geschäftschancen für chilenische und europäische Unternehmen eröffnen und gleichzeitig die europäische Nachfrage nach sauberem Wasserstoff decken«, heißt es auf der Webseite der Europäischen Investitionsbank. Die EU wolle bis 2030 jährlich zehn Millionen Tonnen grünen Wasserstoff produzieren und dieselbe Menge importieren, versicherte von der Leyen. Dieser Wasserstoff heißt grün, weil er mithilfe von Sonnen- und Windenergie hergestellt wird.

In 13 Ländern Lateinamerikas ist die Wasserstoff-Plattform H2LAC der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) aktiv, so auch in Uruguay und Argentinien. In der argentinischen Provinz Rio Negro hat die ebenfalls sehr präsente Fraunhofer-Gesellschaft eine optimistische Studie zum Wasserstoff-Potenzial vorgelegt. Umweltschützer*innen machen gegen die dafür erforderlichen Windparks mobil. Diese wären auch deshalb nötig, damit Europa den »sauberen« Treibstoff importieren kann.

In Chile und Uruguay produziert die Firma HIF Global mit dem Aktionär Porsche aus Wasserstoff E-Fuels. Zur Einweihung der Anlage Haru Oni in Südpatagonien, deren Millionensubvention noch von Ex-Wirtschaftsminister Peter Altmeier auf den Weg gebracht wurde, ließ Porsche den grünen baden-württembergischen Verkehrsminister Winfried Hermann einfliegen – zu einem Pilotprojekt, das unter klimapolitischen Gesichtspunkten eine Mogelpackung ist. Denn anstatt das für den Prozess erforderliche Kohlendioxid wie angekündigt aus der Atmosphäre zu entnehmen, verwenden die Betreiber offenbar fossiles, »recyceltes« CO2. Hinzu kämen später lange, umweltschädliche Transportwege nach Europa.

Einem uruguayischen Radiosender gestand Alejandro Stipanicic, Vorsitzender der am zweiten HIF-Vorhaben beteiligten Staatsfirma Ancap, der angeblich klimaneutrale Synthetiksprit sei »sehr teuer. Der ist nicht für den lokalen Markt«.

In Brasilien und Kolumbien schwärmten Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock vom großen Potenzial für erneuerbare Energien wie Sonne und Windkraft, mit denen Wasserstoff für Europa hergestellt werden soll – für die Akzeptanzprobleme der Windparks vor Ort interessierten sie sich offenbar nicht. Die liberale Tageszeitung »Folha de São Paulo« hob nach einer Rede Baerbocks spitz »den Appetit auf Energie und Lithium« hervor.

Und die »gemeinsamen Werte«? In Lateinamerika erinnert man sich sehr gut daran, wie wenig die EU während der Covid-19-Pandemie zur Lieferung bezahlbarer Impfstoffe oder gar zu Ausnahmen beim Patenschutz bereit war – in vielen Ländern sprangen Russland und China ein. Verständlich also, dass man auf Freundschaftsbeteuerungen skeptisch und auf einseitig dekretierte Forderungen allergisch reagiert – am deutlichsten tut dies der brasilianische Präsident.

Während die meisten Latino-Staatschefs ihr Unbehagen höchstens hinter verschlossenen Türen äußern, macht Luiz Inácio Lula da Silva aus seinem Herzen keine Mördergrube. Ihm ist bewusst, dass das EU-Mercosur-Abkommen vor allem europäischen Firmen neue Märkte erschließen und den Zugang zu alten und neuen Rohstoffen wie Kupfer und Lithium erleichtern soll. Im Gegenzug verspricht sich Lula glänzende Geschäfte für das brasilianische Agrobusiness, Umweltprobleme hin oder her. Vor allem aber befürchtet er, dass einheimische Industrien bei einem freien Marktzugang europäischer Firmen pleitegehen würden oder erst gar keine Chance hätten, sich zu entwickeln.

Mit seinem französischen Kollegen Emmanuel Macron, von der Leyen oder Scholz spricht Lula öffentlich Klartext. Grundlage für eine Partnerschaft auf Augenhöhe dürften nicht Misstrauen oder die unilaterale Drohung mit Sanktionen sein, erklärt er. Lula und andere lateinamerikanische Amtsträger*innen stören die vom European Green Deal geprägten Umweltauflagen insbesondere für die Landwirtschaft, die die EU in einem Zusatzprotokoll zum EU-Mercosur-Abkommen festhalten möchte. Sanktionen wären dann wohl zumindest theoretisch möglich – genau wissen das nur wenige, denn wie immer bleiben solche Texte bis zur Unterzeichnung geheim.

Die Verhandlungen über das Protokoll gestalten sich äußerst zäh, denn im Mercosur wittert man Protektionismus. Das wichtigste Hindernis beim Freihandelsabkommen auf europäischer Seite stellen in der Tat Bauernverbände in Frankreich, Österreich, Belgien oder Irland dar, die mehr denn je die Konkurrenz billiger, unter laxen Auflagen produzierter Agrarimporte fürchten.

Im April verabschiedete das Europäische Parlament zudem ein Gesetz zur Bekämpfung der Entwaldung weltweit, das Anfang Juli in Kraft getreten ist. Demnach dürfen EU-Firmen ab 2024 kein Holz, Holzkohle, Druckerzeugnisse, Kaffee, Kakao, Kautschuk, Palmöl, Rinder oder Soja mehr importieren, die auf ab 2021 entwaldeten Flächen produziert werden. Grüner Kolonialismus?

So sehen es die Latinos, denn auch das ist eine unilaterale Maßnahme. Politisch fatal ist aber, dass Lula & Co. es sich nicht leisten können, sich mit dem devisenbringenden Agrobusiness anzulegen. Ein ratifizierter Freihandelsvertrag würde also auch die Waldvernichtung beschleunigen, denn ob und wann Unternehmen künftig tatsächlich zur Kasse gebeten würden, steht in den Sternen.

Auch zu Wort melden werden sich bei dem Gipfel am Montag und Dienstag in Brüssel Vertreter*innen Dutzender Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen aus Europa und Lateinamerika. Auf der Straße und auf Parallelveranstaltungen werden sie eine ökosoziale Wirtschafts- und Handelsordnung fordern und sich freuen, dass zumindest aus dem neokolonialen EU-Mercosur-Abkommen so schnell nichts wird.

Und wie offen ist die EU für die Anliegen ihrer »natürlichen Partner«? Staatschef Gustavo Petro aus Kolumbien – mit seiner geplanten »gerechten Energiewende« ein Vorreiter auf dem Kontinent und von der Bundesregierung ebenfalls heftig umworben – wird sich wohl wieder für eine neue Drogenpolitik und Schuldenerlasse für Urwaldschutz stark machen. Bei solchen Themen könnten die Europäer zeigen, dass es ihnen um mehr geht als Rohstoffe.

Gerhard Dilger lebt seit 1992 in Südamerika, von 2000 bis 2012 war er nd-Korrespondent in Brasilien, danach Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo und Buenos Aires. Heute ist er freier Journalist und Berater in Buenos Aires.

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