Das Gehirn hilft sich selbst

Neuroplastizität ermöglicht das Lernen – und auch die Reaktion auf Ausfälle von Gehirnfunktionen

Im Jahr 2007 suchte ein 44-Jähriger in Südfrankreich ein Krankenhaus auf, weil er unter einer leichten Schwäche im linken Bein litt. Die Ärzte veranlassten eine Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT) und entdeckten, dass ihrem Patienten fast 90 Prozent des Gehirns fehlten. Statt der üblichen Zellen fand sich nur Liquor, also Nervenwasser.

Dennoch lebte der Franzose ein normales Leben, er arbeitete als Verwaltungsbeamter, war verheiratet und Vater von zwei Kindern. In Intelligenztests schnitt er leicht unterdurchschnittlich ab, war aber nicht irgendwie auffällig. Warum aber fehlte ihm so viel Hirnmasse? Auf diese Frage gab es eine recht einfache Antwort: Als der Mann noch ein Baby war, bestand die Gefahr, dass sich ein Wasserkopf entwickeln könnte. In solchen Fällen wird mit einer Art Drainage versucht, Druck aus dem Gehirn zu nehmen. Auch hier ließen die Ärzte Hirnwasser ablaufen. Im Verlauf weiteten sich die Hirnkammern stark und nahmen Teilen des Gehirns den Raum. Offensichtlich genügten die verbleibenden zehn Prozent für eine unauffällige Entwicklung.

Derartige Meldungen aus der Neurologie, wenn auch nicht in einem solchen Extrem, gibt es häufiger. Eine besondere Fallsammlung legte der britische Neurologe Oliver Sacks schon 1985 vor: In dem Buch »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« schilderte er anschaulich, welche psychischen Störungen auftreten können, wenn das Gehirn physisch verändert wird.

Die allgemeine Grundlage dafür, dass der eingangs erwähnte Franzose ein recht normales Leben führte, ist die Neuroplastizität. Darunter wird die Fähigkeit des Gehirns verstanden, seinen Aufbau und seine Funktionen so zu verändern, dass es optimal auf neue äußere Einflüsse und Anforderungen reagieren kann. Das umfasst auch die Reaktionsfähigkeit auf den Ausfall von Gehirnfunktionen oder -arealen durch Krankheit oder Unfall. Die Neuroplastizität ermöglicht zugleich, dass wir überhaupt lernen können. Die Reorganisationsfähigkeit des Gehirns ist Voraussetzung dafür, dass Rehabilitation etwa nach einem Schlaganfall gelingen kann.

Mehr Aufmerksamkeit für diese Zusammenhänge will auch der an diesem Sonnabend begangene Welt-Gehirn-Tag schaffen. Die am 22. Juli 1957 gegründete World Federation of Neurology (WFN) schlägt seit 2014 jedes Jahr mit wechselnden Partnerorganisationen dafür einen medizinischen Schwerpunkt aus dem Fachgebiet vor. Das Motto in diesem Jahr lautet: »Gehirngesundheit und Behinderung: Niemanden zurücklassen«. Mit dem Tag will die WFN die Wahrnehmung von Behinderung verbessern und die Gesundheitsversorgung für Betroffene verbessern.

Neuroplastitizität bedeutet im Sinne einer Vermeidung von dauernden Schäden auch, dass eine Reha möglichst früh beginnen sollte. Im Zusammenhang mit der Versorgung von Schlaganfällen gilt die Regel »Time is brain« – mit anderen Worten: Je schneller reagiert wird, kann ein umso größerer Teil des Gehirns vor dem Ausfall durch Einblutungen oder einen Gefäßverschluss bewahrt werden. Im erweiterten Sinn gilt dieser Zeitdruck auch für die Rehabilitation. Nicht umsonst sind in den Stroke Units, auf Schlanganfall-Patienten spezialisierten Abteilungen in größeren Kliniken, auch Physio- und Ergotherapeuten sowie Logopäden täglich für die Patienten da.

Wichtig für Patienten, die zum Beispiel im Koma waren, sind Abteilungen der neurologischen Frührehabilitation. Hier sollen durch intensive ärztliche, therapeutische und pflegerische Behandlung Folgeschäden vermieden oder minimiert werden. Nötig ist eine solche Reha im Krankenhaus nach verschiedenen schweren Erkrankungen oder Unfällen, darunter Hirnschäden unter Sauerstoffmangel (etwa nach einem Herzstillstand), Schädelhirntraumata, oder nach operativen Eingriffen und langer Intensivbehandlung.

Als nächster Schritt folgen nach Stroke Unit und Früh-Reha dann spezialisierte neurologische Reha-Kliniken. Hier sollen Patienten weiter an der Verbesserung oder Wiedererlangung ihrer Leistungsfähigkeit arbeiten. Tatsächlich: arbeiten. Darauf weisen Experten des Medical Park Bad Camberg hin, einer Reha-Klinik im Taunus. Demnach ist Rehabilitation sogar harte Arbeit: Denn das Gehirn lerne durch Wiederholung und Muster. Während einer Rehabilitation wird an vorhandene Muster angeknüpft, neue Muster werden etabliert, und durch stetige Wiederholung wird das Gehirn darin trainiert, neue Vernetzungen herzustellen.

Wenn das mehr oder weniger gelungen ist, heißt das trotzdem nicht, dass nicht doch gravierende langfristige Folgen bleiben, darunter Lähmungen, Gedächtniseinbußen oder Depressionen. Sogar wenn der Schlaganfall folgenlos vorübergeht, sollten die Betroffenen nicht einfach nach dem Motto »Weiter so wie zuvor« verfahren, mahnt aktuell die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft (DSG). Denn auf einen Schlaganfall folgt oft ein zweiter, der nicht selten mit deutlich schwerwiegenderen Nachwirkungen einhergeht. Ob sich das Risiko für ein solches Rezidiv mit einer besseren Nachsorge verringern lässt, wird aktuell im Rahmen einer groß angelegten Studie untersucht. Erste Ergebnisse dazu veröffentlichte die Fachzeitschrift »The Lancet Neurology«.

Jedes Jahr erleiden rund 70 000 Menschen in Deutschland ein Schlaganfallrezidiv. Damit ist ungefähr jeder vierte Insult, wie der Schlaganfall in der Medizin genannt wird, kein erstmaliges, überraschendes Ereignis. »Das von einem ersten Insult ausgehende Warnsignal muss dringend ernster genommen werden und eine strukturierte Behandlung nach sich ziehen«, sagt Darius Nabavi von der DSG und Chefarzt der Abteilung für Neurologie am Vivantes-Klinikum Neukölln in Berlin. Nach Schätzungen könnte rund die Hälfte aller Rezidive verhindert werden.

Dazu müssten Betroffene wichtige Herz-Kreislauf-Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Rauchen oder erhöhte Blutfettwerte besser kontrollieren. Laut früheren Studien gelingt das vielen Patienten nicht. Hier schließt sich der Kreis: Allein zur Behandlung und Verhinderung von Schlaganfällen ist ein großer Aufwand nötig. Rein neurologisch betrachtet sind die Aussichten auf Genesung oder Verbesserung der Hirngesundheit nicht schlecht. Die therapeutisch-medizinischen Voraussetzungen müssen allerdings auch stimmen.

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