Flucht aus der Türkei: »Exil bedeutet Ungewissheit«

Die Soziologin Latife Akyüz über ihre Flucht aus der Türkei und das Leben zwischen Athen und Berlin

  • Interview: Friedrich Burschel
  • Lesedauer: 6 Min.
Diaspora: Flucht aus der Türkei: »Exil bedeutet Ungewissheit«

Frau Akyüz, seit Sie die Türkei verlassen haben, leben Sie im Exil. Wie kam es dazu?

Meine Geschichte beginnt am Tag von Erdoğans Hasstirade gegen die »Academics for Peace« im Februar 2016. Ich habe damals als Assistenzprofessorin im Fachbereich Soziologie an der Universität Düzce gearbeitet, als ich eine Petition dieser Initiative unterzeichnete. Darin wurde die türkische Regierung aufgefordert, Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Provinzen zu beenden. Über 1000 Wissenschaftler*innen und Forscher*innen von insgesamt 89 Universitäten im Land gehörten zu den Unterzeichner*innen. An meiner Universität war ich allerdings die Einzige, und als alleinstehende Frau war ich in dieser konservativen Kleinstadt fortan die perfekte Zielscheibe: Innerhalb von zwei Tagen wurde ich suspendiert, lokale Medien brachten Bilder von mir als Aufmacher, und Ultranationalist*innen nahmen mich über die sozialen Medien ins Visier. Dann folgten Hausdurchsuchung, Haftbefehl und Reiseverbot. Von einem auf den anderen Tag fühlte ich mich in dieser Stadt nicht mehr sicher. Also ließ ich meine Katze und alle meine Sachen zurück und machte mich auf den Weg nach Istanbul. Ein paar Monate später, im Juli, kam es zum Putschversuch. Als dann im Oktober auch noch mein Reisepass eingezogen wurde, entschied ich mich, heimlich das Land zu verlassen.

Auf eigene Faust?

Nicht ganz. Die Zulassung zum Philipp-Schwartz-Programm für gefährdete Akademiker*innen hat mir sehr dabei geholfen. Seit 2016 ermöglicht dieses Programm deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen, ausländische Wissenschaftler*innen aufzunehmen, denen in ihren Heimatländern Krieg oder Verfolgung droht.

Inwiefern beeinflusst das Exil Ihre akademische Arbeit?

Die größte Auswirkung auf das Arbeitsleben von uns Exilant*innen ergibt sich aus dem Verlust unserer Netzwerke und Orte der Wissensproduktion, die wir uns bis zum Zeitpunkt der Flucht aufgebaut hatten. Aber auch an den Orten und in den Institutionen, wo wir unser Exilleben fristen, erleben wir jetzt Einschränkungen. Da man uns in erster Linie als »Gefährdete« betrachtet, werden häufig die fachlichen Leistungen übersehen, die wir vorzuweisen haben. Dazu kommt noch die Sprache: Obwohl die meisten von uns gut Englisch sprechen, können wir an den üblichen Besprechungen nicht teilnehmen, da sie immer auf Deutsch stattfinden. Das führt zu einem Machtgefälle.

Seit Ihrer Flucht pendeln Sie zwischen Athen und Berlin: Wie ist das Leben im Exil?

Wenn ich es mit einem einzigen Wort beschreiben müsste, würde ich definitiv »Ungewissheit« wählen. Es ist ein ständiger Schwebezustand, nicht nur mit Blick auf die Gegenwart, sondern auch auf die Zukunft. So sieht zumindest die Exilerfahrung der sogenannten neuen Welle aus. Also derjenigen, die seit der Niederschlagung des Gezi-Widerstands 2013 das Land verlassen mussten. Sie haben einen sehr heterogenen sozialen, beruflichen, ethnischen, kulturellen und Klassenhintergrund – und befanden sich auch in ganz unterschiedlichen Stadien ihrer beruflichen Entwicklung.

Wie macht sich diese Ungewissheit bemerkbar?

Allein bürokratische Hindernisse lassen unser berufliches Leben und unseren Alltag zu riesigen Herausforderungen werden. Aufenthaltstitel, Arbeitserlaubnisse, annullierte Pässe und die damit verbundenen Reiseeinschränkungen – und auch die folgenreiche Kernfrage, ob man nun Asyl beantragen soll oder eben nicht – waren und sind die Hauptprobleme für praktisch alle von uns. Viele meiner Freund*innen haben beschlossen, kein Asyl zu beantragen, weil sie zunächst glaubten, dass sie nach kurzer Zeit zurückkehren könnten.

Gibt es noch mehr Herausforderungen?

Natürlich! Zu diesen enormen Schwierigkeiten kommt die Trennung von unseren Familien, unseren Lieben, unserer vertrauten Umgebung und dass wir keinen Ort haben, an den wir zurückkehren können. Wir spüren eine von Tag zu Tag schwächer werdende emotionale Bindung an unser Herkunftsland und haben gleichzeitig das Gefühl, nicht da hinzugehören, wo wir gerade leben. Es ist ein schwer zu beschreibender Zustand von Einsamkeit und Verlorenheit.

Sind die türkischen Exilierten irgendwie als Linke, Kurd*innen oder anderweitig Verfolgte organisiert?

Da muss man zwischen Deutschland und Griechenland und den Zeiten vor und nach der neuen Welle unterscheiden. Ich spreche aus eigener Erfahrung, wenn ich von Organisierung und Solidarität in der jüngsten Migrantionswelle rede, die anders als die vorangegangene vor allem als Braindrain betrachtet wird und deren Vertreter*innen als sogenannte Gezi-Generation bezeichnet werden. Darunter wird eine Generation hochgebildeter und qualifizierter junger Menschen gefasst, die davon überzeugt sind, dass die Türkei ihnen in naher Zukunft kein stabiles Leben bieten kann. Zu dieser Migrationswelle gesellten sich vor allem nach dem Putschversuch von 2016 Journalist*innen, Politiker*innen, Künstler*innen und Akademiker*innen, von denen die meisten nach Deutschland gingen.

Wie ist die türkische Diaspora in Deutschland aufgestellt?

Ethnisch, religiös und ideologisch war sie schon immer vielfältig – türkisch, kurdisch, alevitisch, links oder auch nationalistisch –, und es gab auch schon jeweils entsprechende Organisationsstrukturen. Aber im Zuge dieser neuen Welle ist auch die Diaspora-Landschaft zu einem stark umkämpften Raum geworden. Es kam zu Konflikten zwischen ehemaligen Aktivist*innen und Neuankömmlingen, die die Erwartungen der älteren Gruppen nicht erfüllten.

Welche Erwartungen waren das?

Von den Neuankömmlingen wurde eine aktivere politische und diplomatische Rolle erwartet. Ihnen wurde unterstellt, dass sie als die Neuen im Exil einen besseren Start hätten und sich daher schnell den bereits etablierten politischen Organisationen anschließen würden. Außerdem haben die Neuankömmlinge auch eigene Zusammenhänge gegründet. Die älteren Diaspora-Netzwerke fühlen sich missachtet und bezeichnen die Neuen als »linke Softies« und als »Grünschnäbel«.

Gibt es auch positive Aspekte?

Auch wenn das Bild düster erscheint, gibt es doch auch ermutigende Initiativen, die versuchen, die verschiedenen Diaspora-Gruppen durch Angebote und Veranstaltungen zusammenzubringen. So wenden sich die Sender Arti TV, Jin TV und das Online-Magazin »Özgürüz« an ein türkisches und kurdisches Publikum. Als Auslandssender umgehen sie die staatliche Zensur, und da sie online arbeiten, erreichen sie nicht nur die türkische Diaspora, sondern auch die Menschen in der Türkei selber. Auch auf der internationalen Bühne erheben sie die Stimme gegen die offiziellen Darstellungen der türkischen Regierung.

Und wie ist es um die türkische Diaspora in Griechenland bestellt?

Da gibt es eine andere Dynamik. Die Präsenz türkischer und kurdischer Gruppen dort ist zwar fast so alt wie in Deutschland. Trotzdem lässt sich nur eine kleine Community nieder. Die Mehrheit betrachtet es als ein Transitland nach Europa, sodass auch die Präsenz linkssozialistischer Gruppen und Verbindungen zu griechischen Organisationen stets begrenzt geblieben sind. Wobei sich auch das mit der neuen Welle allmählich zu ändern beginnt und die Tendenz, sich niederzulassen, zugenommen hat.

Woraus schöpfen Sie im Exil Kraft?

Wenn du glaubst, dass die Menschheit ein besseres Leben verdient, und wenn du an gesellschaftlichen Wandel glaubst, kannst du besser mit deiner eigenen Fragilität umgehen. Denn überall auf der Welt verdient die Menschheit ein besseres Leben, und dafür muss auf der ganzen Welt gekämpft werden. Ich denke, dieser Glaube hält eine*n trotz aller Schwierigkeiten über Wasser.

Eine längere Version des Interviews ist bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen.

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