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  • Kultur/Sommerserie »Food for Thought«

Vom großen Fressen zum Petit dejeuner

Food for Thought (Teil 2): Die Bourgeoisie galt früher als gefräßig – heute ist sie schlank und fit

Gier passt heute nicht mehr in den Zeitgeist. Jetzt zählt: Qualität statt Quantität
Gier passt heute nicht mehr in den Zeitgeist. Jetzt zählt: Qualität statt Quantität

Lebensmittel, ihre Zubereitung und ihr Verzehr sind, wie man nicht erst seit den Untersuchungen des Kultursoziologen Pierre Bourdieu weiß, nicht nur Gegenstände und Praktiken zum reinen Selbsterhalt der Individuen. Was wann wie auf den Tisch kommt, ist immer eine Frage von sozialer Stellung, Distinktion und von Gesellschaft und Produktionsweise selbst.

Food for Thought

Food for Thought

In unserer diesjährigen Sommerreihe widmen wir uns der Kulinarik – in ihrer sinnlichen, sozialen und politischen Dimension.

Als Sinn für sich genommen gilt das Schmecken allerdings gar nicht als besonders elaboriert: Oft als unmittelbar »sinnenhaft« (Immanuel Kant) begriffen, wirkt es auf viele so, als werde es ohne Kontemplation, ohne distanzierende Reflexion oder Urteil der Vernunft vollzogen. Damit fällt das Schmecken in der Hierarchie der Sinne unter das Sehen und Hören auf ähnlich niedrige Stufe wie das Riechen, mit dem es ja schon in der Physiognomie des Menschen engsten Kontakt hält.

Zudem zieht Nahrungsaufnahme unweigerlich Ausscheidungen nach sich: ein weiteres Argument bürgerlichen Denkens gegen das Schmecken. Unvernünftig konsumierend und stinkend sind dann auch die Attribute, die das Bürgertum im späten 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts erst Proletariat, dann den beherrschten Bevölkerungen der Kolonien zuschreibt. Sich selbst definiert es als rational, beherrscht und genießend mit Maß. Doch auch in den Arbeiterbewegungen dieser Zeit wird der übermäßige Konsum zum Sinnbild des Gehassten: Es zirkulieren die auch heute noch bekannten Karikaturen von fetten Kapitalisten, Geldsäcken, Schweinen mit Zylindern, die kein Maß kennen. Und irgendwie trafen sie ja auch etwas: Ein Wohlstandsbäuchlein unterstrich damals die hohe gesellschaftliche Position.

Im Film »Das große Fressen« von 1973 sind es nicht mehr die Eigentümer an Produktionsmitteln, die sich radikal zu Tode fressen, vögeln und scheißen, sondern Angehörige der lohnabhängigen Mittelklasse. Die hatte inzwischen eine starke Aufwertung erfahren. Und so soll auch hier die Dekadenz einer Schicht über übermäßige Verfügbarkeit und Verzehr von Nahrung dargestellt und kritisiert werden. Ebenso in einer Episode des Monty-Python-Films »Der Sinn des Lebens« von 1983, in der sich der stark übergewichtige Bourgeois Mr. Creosote im Edelrestaurant bis zur Selbstexplosion frisst. Aber in dieser Szenerie kündigt sich schon eine Verschiebung der Vorstellungen an: Die Bourgeois um Mr. Creosote herum sind gesund, dünn und sie sind von seinem Essverhalten bis zum Erbrechen angewidert. Das Bild des dicken Bourgeois der Nachkriegszeit hat langsam ausgedient, Qualität statt Quantität heißt es nun im neoliberalen Akkumulationsregime.

Neue Regeln der Selbst- und Fremdkontrolle, der kulturellen Verhaltensweisen und Geschmacksäußerungen sind erschienen. Mittlerweile bevorzugen die Bourgeoisie und der Teil der Mittelschicht, der an sie anschließen will, als gesünder imaginierten und beworbenen Küchen anderer Kulturen. La Dolce Vita, kulinarische Handwerkskunst und qualitative Lebensmittel: Ja, bitte! Aber auch nicht zu viel davon. Auf den Terrassen von Cafés, Ristorantes und Ramen-Küchen, die »gutbürgerliche« Gasthäuser längst verdrängt haben, werden winzige Portionen beim Business Talk verzehrt. Dazu Aperol Spritz und absolut öde Electronica. Und sollte es doch einmal ein alkoholisches Getränk zu viel werden, helfen chemische und nicht-chemische Hilfsmittelchen, um den nächsten Pitch erfolgreich abzuliefern. Nirgendwo wird über die Stränge geschlagen, der einzige Exzess ist der des Haltens der Work-Life-Balance. Eine Subjektivierungsweise, die der Soziologe Ulrich Bröckling schon vor über 15 Jahren als »unternehmerisches Selbst« bezeichnete, und deren Formation sich bereits in Management-Ratgebern, Psychotechniken und New-Age-Gefasel der 80er Jahre abzeichnete. Patrick Bateman nicht als Horror-Vorstellung, sondern als Lebensmodell.

Die untere Klasse soll sich indes mit dem »Kraftriegel des Facharbeiters«, wie Gerhard Schröder die Currywurst 2021 nannte, abspeisen lassen. Der Facharbeiter – aber auch nur dieser! – soll seine Kalorien in Form des Riegels, eines von der Lebensmittelindustrie an Sportler adressierten Produkts, hineinbekommen, um im kapitalistischen Verwertungsprozess weiterhin seine Arbeitskraft reproduzieren zu können. Kein Wunder, dass Schröder, der Hartz-IV-Reformator, sich dieses Ausdrucks bedient. Wie rauschhaft und ohne in kitschige Gefilde des Proletkult abzurutschen klingt dagegen die Ode an die Currywurst von Herbert Grönemeyer, bevor dieser zum säkularen Seelentröster der Nation mutierte.

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